Auf Mauritius entsteht ein Schiff, das die Kreuzfahrt neu definieren soll: Die «Captain Arctic» wird die ersten praktisch emissionsfreien Arktis-Schiffsreisen ermöglichen. Hinter dem Projekt steckt Kapitänin Sophie Galvagnon. Die Geschichte der Französin ist so aussergewöhnlich wie ihre Vision.

Eine Kapitänin macht die Schifffahrt klimafreundlich
von Sarah Grünig, Redaktorin Globetrotter Magazin
November 2024
In der Werft Goltens in Dubai liegt vor aufgereihten Stühlen ein Teil des Rumpfes der zukünftigen «Captain Arctic». Die Werft ist an der Konstruktion des weitgehend emissionsfreien Schiffes beteiligt und richtet an diesem Tag die Kiellegungszeremonie aus. Das traditionelle maritime Ritual markiert den Beginn der Schiffskonstruktion.
Im Publikum sitzt Sophie Galvagnon, Polarkapitänin, Mitgründerin und CEO der Reederei Selar, die den Bau des Schiffes beauftragt hat. Die damals 37-Jährige mit rot-blonden, schulterlangen Haaren trägt Jeans und Blazer. Lächelnd betritt sie über eine Treppe den Rumpfteil aus rotem Stahl und legt vor den Zuschauer*innen einen etwa handgrossen, vergoldeten Stern in die dafür vorgesehene Einbuchtung.
Der Stern hat eine symbolische Bedeutung. Er soll dem Schiff und seiner Besatzung Glück bringen und für sichere Reisen sorgen. Dies ist die Geburt von «Captain Arctic» und ein weiterer Schritt in Richtung Sophies Vision, die weit über den heutigen Tag hinausgeht.
Meer und Eis
Sophie Galvagnon wächst als Tochter eines Kapitäns in der Nähe von Marseille auf. Schon als Kind spürt sie eine tiefe Verbundenheit mit dem Meer. Das französisch-schwedische Mädchen verbringt ihre Winter in Schweden und ist früh von kalten Regionen, Schnee und Eis fasziniert. Inspiriert von den Erzählungen ihres Vaters und getrieben vom Wunsch, die Welt zu entdecken, studiert sie an der Handelsschifffahrtsschule in Marseille. Sie arbeitet zunächst auf Fähren und Containerschiffen. Dort ist Sophie oft die einzige Frau unter vielen Männern. «Man braucht einen starken Charakter und darf keine Grenzüberschreitungen zulassen», sagt sie heute. «Ich sah mich stets als Navigation Officer, nicht als ‹Frau an Bord›, und wollte auch so wahrgenommen werden. Das hat meist gut funktioniert.»
2008 fährt Sophie für eine Saison auf einem Passagierschiff in der Antarktis, und verfällt erneut dem Eis. Sie geht nach Schweden, wo sie auf staatlichen Eisbrechern arbeitet, um die Technik der Polarnavigation zu erlernen. «Im Eis zu fahren ist anspruchsvoll, weil Satellitendaten oft ungenau oder veraltet sind, Wettermodelle wenig verlässliche Informationen liefern und viele Gebiete kaum vermessen sind», sagt sie.
Auch emotional sind die monatelangen Expeditionen in abgelegene Regionen herausfordernd. «Manchmal ist es ständig dunkel, manchmal immer hell, das fordert auch menschlich. Entscheidend ist, an Bord Zusammenhalt und positive Energie zu bewahren.» Sophie liebt die Arktis und all diese Herausforderungen. Mit nur 26 Jahren kommandiert sie zum ersten Mal ein Polarschiff, als jüngste Frau überhaupt.
Kurswechsel
Ab nun fährt Sophie in der Arktis, meist für den Tourismus, gelegentlich auf Forschungsschiffen. Sie baut eine Reederei auf, die nach dem klassischen Modell funktioniert. Ein altes Schiff wird gekauft, umgerüstet und auf den Markt gebracht. Wirtschaftlich läuft es gut, doch Sophie fehlt der Sinn. «Wir transportierten Passagiere auf kleinen, aber stark verschmutzenden Schiffen, und ich begann mich zunehmend schuldig zu fühlen», sagt sie. Parallel zum wachsenden globalen Bewusstsein für den Klimawandel sieht sie Jahr für Jahr die Veränderungen in der Arktis, die ihr so am Herzen liegt.
Die junge Kapitänin stellt die heutige Schifffahrt von Grund auf in Frage. Inspiriert von den Segelschiffen einstiger Entdecker beginnt sie aufzuzeichnen, wie die Zukunft aussehen könnte. Sie ist überzeugt, dass moderne Technik Nachhaltigkeit möglich macht. Sophie entschliesst sich, mit ihrer Expertise die Kreuzfahrtbranche zu transformieren und verlässt ihre erste Reederei. Besessen von ihrer Vision und der Leidenschaft für die Arktis arbeitet sie bis zu 16 Stunden täglich. Manchmal sitzt sie am Morgen im Pyjama vor den Computer und trägt ihn noch, als es draussen längst wieder dunkel ist.
Sophie wendet sich an den renommierten Schiffsarchitekten Laurent Mermier. Gemeinsam mit ihm und im Austausch mit Forschern, Wissenschaftlerinnen und Experten entstehen die Pläne für das erste arktische Schiff mit Solar- und Segelantrieb. In dieser Zeit lernt Sophie zwei wichtige Verbündete kennen: Julia Bijaoui und Quentin Vacher aus der französischen Startup- und Tech-Welt. «Mir war frisches Blut aus anderen Branchen wichtig», sagt Sophie rückblickend. «Nur so liess sich die klassische Schifffahrt wirklich hinterfragen.» Gemeinsam gründen die drei die Reederei Selar. Der Name spielt auf Sailor an, erinnert an Solar und Sails.
Dank wachsendem Interesse an grüner Technologie, steigender Sensibilität für Klimafragen und einem Plan, der überzeugt, findet Selar passende Investoren. Die Finanzierung der Yacht erfolgt über Bankkredite und Fundraising. Über die Baukosten gibt sich Selar auf Anfrage bedeckt. Bekannt ist, dass das Schiff rund 40 Prozent teurer ist als ein herkömmliches Modell derselben Grösse. Die Kosten für klassische Neubauten dieser Klasse liegen deutlich über 100 Millionen Euro und können in den hohen dreistelligen Millionenbereich reichen.

Überwältigung
Oktober 2025. Der Rumpfteil der «Captain Arctic» mit dem goldenen Stern aus Dubai ist inzwischen nach Mauritius verschifft worden. In der Werft Chantier Naval de l’Océan Indien ist der 70 Meter lange Schiffskörper nun fertiggestellt. Die «Captain Arctic» beginnt ihre endgültige Form anzunehmen. Wenn Sophie von der Wasserung erzählt, überschlägt sich ihre Stimme fast. Ihre Begeisterung ist so echt, dass man sich ihr kaum entziehen kann. «Es war überwältigend», sagt sie in ihrem schönen Englisch mit dem französischen Akzent. «Ich hatte Gänsehaut!»
Das Schiff wird mit fünf jeweils 35 Meter hohen Segeln ausgestattet, die sich um bis zu 180 Grad drehen lassen. Auf einer Fläche von 2000 Quadratmetern sind Photovoltaikmodule installiert. Bei schlechtem Wetter oder unter Brücken können die Segel eingeklappt werden. «Captain Arctic» soll überwiegend mit Wind- und Sonnenenergie fahren. Der erzeugte Solarstrom wird direkt genutzt oder in Batterien gespeichert, die bei Windstille die Propeller antreiben. Unter Segel wiederum dienen die Propeller als Hydroturbinen, erzeugen Strom und laden die Batterien auf.
Für längere Phasen ohne Wind und Sonne ist ein elektrischer Antrieb mit Biokraftstoff vorgesehen. Der Energieverbrauch an Bord wird konsequent optimiert. Wenn das Konzept aufgeht, wird die «Captain Arctic» rund 90 Prozent weniger CO₂ ausstossen als herkömmliche Kreuzfahrtschiffe, die heute in der Arktis unterwegs sind.

Verantwortung
Nachhaltigkeit soll sich bei Selar durch alle Bereiche ziehen. An Bord wird Abfall recycelt, nicht ins Meer geleitet. Durch Umkehrosmose entsteht Süsswasser direkt aus dem Meer. Ein Pelletkessel mit recycelten Holzpellets wird zum Heizen genutzt. Die Küche setzt auf achtsamen Genuss ohne Verschwendung. Portionen werden präzise geplant, Lebensmittel sorgfältig verarbeitet und vollständig verwertet. Zudem soll ein Teil der Einnahmen in wissenschaftliche Programme und nachhaltige Projekte fliessen.
Die Reederei will auch soziale Verantwortung übernehmen. Eine faire Bezahlung ist Sophie wichtig. Ausserdem sollen alle, unabhängig von Herkunft oder Geschlecht, denselben Lohn für die gleiche Position erhalten. Die Kapitänin will die Frauenquote in der Schifffahrt erhöhen. Aktuell liegt diese gemäss der «Women in Maritime Survey 2024» unter den Seeleuten bei nur einem Prozent. «Da ich als Frau Kapitänin und CEO bin, bewerben sich mehr Frauen als üblich. Das freut mich sehr», sagt Sophie. Ziel ist, gemischte Teams sowohl in den Maschinenräumen als auch auf Deck zu haben.
Aktuell findet man auf der Homepage von Selar verschiedene Jobangebote. Sophie ist eng in den Rekrutierungsprozess eingebunden. In strengen Auswahlverfahren werden alle fachlichen Qualifikationen geprüft, doch der Fokus liegt auf Persönlichkeit und Haltung. «Wir achten auf Menschen, die unsere Werte teilen und wirklich für das Abenteuer brennen», sagt die Unternehmerin.
Die ersten Expeditionen sind ab November 2026 in Norwegen, Spitzbergen und Grönland geplant. Feste Routen gibt es nicht, sie richten sich nach Wetter, Eisbedingungen und Tierwelt. Jede Reise, erklärt Sophie, sei «einzigartig und nachhaltig in der Erfahrung». Durch die kleine Gruppengrösse können die Gäste täglich sechs bis acht Stunden in der Natur verbringen. Je nach Reise auf dem Eis, beim Beobachten von Eisbären, Belugas oder Walen, beim Schnorcheln mit Orcas oder anderen Aktivitäten. Begleitet werden sie von Guides, Wissenschaftlern und Expertinnen, mit denen sie sich austauschen können.

Genuss
Die «Captain Arctic» verfügt über 19 Kabinen für maximal 36 Passagiere. Die Innenräume, entworfen von der Innenarchitektin Joséphine Fossey, sind minimalistisch gestaltet. Der Fokus liegt auf natürlichen, nachhaltigen Materialien. An Bord gibt es ein Restaurant, eine Bibliothek, ein wissenschaftliches Labor sowie einen kleinen Spa-Bereich mit Sauna, Fitnessraum und Yogakursen. Auch Kunstworkshops unter Anleitung eines Künstlers gehören zum Programm. «Dank der überschaubaren Grösse bleiben wir flexibel. Zeigt sich ein spektakulärer Sonnenuntergang, passen wir den Zeitplan an, damit alle den Moment in Ruhe geniessen können», sagt Sophie.
Laut Selar sind die ersten Reisen der «Captain Arctic» bereits gut gebucht. Die Gäste kommen vor allem aus Europa und den USA und suchen authentische, individuelle Erlebnisse jenseits grosser Gruppen. «Sie möchten eine persönliche Verbindung zu einem der Guides an Bord aufbauen, dem Küchenchef helfen oder vielleicht sogar gemeinsam mit ihm den frischen Lachs fangen», meint Sophie. Diese Menschen schätzen eine neue Form von Luxus, die auf Echtheit, menschlichen Begegnungen und Naturverbundenheit beruht. Sie suchen Reisen mit Sinn und bleibender Wirkung.
Sophies Ungeduld, endlich die «Captain Arctic» selbst zu steuern, ist im Gespräch spürbar. Auch wenn sie heute vor allem die Vision von Selar und das Wachstum der Reederei vorantreibt, will sie regelmässig als Kapitänin an Bord sein. Sie möchte die Verbindung zum Meer und zur Praxis nicht verlieren. Wichtig ist ihr, Wissen, Erfahrung und die Werte von Selar an ihre Crew weiterzugeben. An ihre Rolle als CEO hat sie sich Schritt für Schritt gewöhnt. «Mittlerweile gibt es sogar Menschen im Team, die darauf achten, dass ich nicht zu viel Unsinn erzähle», sagt sie und lacht.
Herausforderung
Das erste Jahr werde in Sachen Nachhaltigkeit das schwierigste sein, meint Sophie, die 2021 als erste Frau den Maritimen Verdienstorden Frankreichs erhielt. Das Team müsse zunächst herausfinden, wie sich die verschiedenen Antriebsoptionen optimal kombinieren lassen. Selar arbeitet mit Technologien, die heute verfügbar und realistisch umsetzbar sind. Ein Schiff wird für rund 40 Jahre gebaut, die Technik entwickelt sich in dieser Zeit weiter. Deshalb ist jährlich ein Budget für Investitionen und Modernisierungen der «Captain Arctic» vorgesehen. «Das Schiff ist so konzipiert, dass es grundsätzlich mit Wind- und Sonnenenergie auf Netto-Null laufen kann», so Sophie.
Die eigentliche Herausforderung liege in den Phasen ohne Wind und Sonne, etwa während der dunklen Jahreszeiten. Doch schon jetzt, sagt sie, werde die «Captain Arctic» ein Game Changer sein. Selar plant langfristig, die Flotte zu vergrössern. «Unsere Mission ist es, ein Vorbild zu sein. Und ich hoffe, dass wir viele Nachahmer finden. Ich denke da sehr skandinavisch: Man kann kooperieren und trotzdem konkurrieren», sagt sie. Das von der International Maritime Organization (IMO) festgelegte Ziel einer Netto-Null-Bilanz für die Schifffahrt bis 2050 dürfte – neben dem Klimawandel selbst – ein zusätzlicher Antrieb für innovative Lösungen sein. Auch andere Reedereien arbeiten an Konzepten für eine klimaneutrale Zukunft.
Wenn man Sophie darauf anspricht, dass ihr Weg unglaublich sei, meint sie: «Ich bin einfach nur einer Idee gefolgt, von der ich wirklich überzeugt bin. Und ich arbeite sehr hart.» Zweifel und Gegenwind habe es viel gegeben. Stimmen, die sagten, das sei zu gross, zu riskant, zu neu. Aber man müsse an seine Träume und Ideen glauben, und es zumindest versuchen, findet Sophie. «Hoffnung bewahren, sich immer wieder herausfordern, sich nicht entmutigen lassen.» Diese Haltung will sie der jungen Generation bei Selar weitergeben.
Wenn alles nach Plan läuft, wird die «Captain Arctic» im August 2026 ihre Jungfernfahrt von Port Louis in Mauritius nach Tromsø in Norwegen antreten. Sophie Galvagnon wird dann die Vision, die sie einst in ihrer Wohnung in Marseille skizziert hat, selbst in arktische Gewässer steuern.

Weiterer Artikel und Reise
Auf unserer Reise mit der «Captain Arctic» im Mai 2027 ist unsere Polar-Expertin Birgit Lutz mit an Bord. Lesen Sie das Gespräch mit ihr über Abenteuer, Mut, Verantwortung und die Schönheit der Arktis.