Ein Gespräch mit Birgit Lutz über Abenteuer, Mut, Verantwortung und die Schönheit der Arktis.

«Es fühlte sich an, als würde ich eine neue Welt entdecken»
Interview von Sarah Grünig, Redaktorin Globetrotter Magazin
Birgit, du bist gerade zu Hause am Schliersee in Oberbayern. Wenn du jetzt an die Arktis denkst, welches Bild taucht als Erstes vor deinem inneren Auge auf?
Die Weite. So eine ganz offene, weiss-blaue Weite. Und oft ist ein Segelschiff mit im Bild. Für mich ist Segeln die natürlichste, schönste Form der Fortbewegung in der Arktis. So wie die alten Abenteurer.
2007 bist du als Journalistin an Bord eines Eisbrechers zum ersten Mal zum Nordpol gefahren. Während dieser Reise hat dich der Norden gepackt. Was genau fasziniert dich so an dieser Region?
Ich werde nie vergessen, wie wir durch den Nebel fuhren und plötzlich die ersten Eisschollen auftauchten. Diese Atmosphäre, das Licht, die Stimmung – das war etwas völlig anderes, als ich es von Fotos oder aus dem Fernsehen kannte. Es fühlte sich an, als würde ich eine neue Welt innerhalb unserer Welt entdecken. Ich wollte alles aufsaugen, habe fast nicht geschlafen. In der Arktis ins Bett zu gehen, fällt mir bis heute schwer.
Und dann die Tierwelt. Rentiere oder Walrosse laufen nicht weg, sie kommen oft näher. In Spitzbergen ist die Jagd weitgehend verboten, die Tiere haben keine Angst. Auch die Landschaft überrascht mich immer wieder: Von Weitem karg, aus der Nähe voller Leben. Blumenwiesen oder Reste einer alten Station, die man erforschen kann. Ich war schon so oft dort und entdecke doch auf jeder Reise Neues.
Hat dich all das dazu gebracht, selbst Expeditionen ins Eis zu unternehmen?
Ja. Mich haben aber auch die grossen Entdecker fasziniert. Schon vor meiner ersten Reise zum Nordpol habe ich Abenteuerbücher von Nansen oder Payer gelesen. Als ich dann zum ersten Mal dieses grosse Eis sah, fragte ich mich, wie sie das ausgehalten haben. Und warum sie nicht aufgegeben haben. Ich wollte selbst spüren, wie es ist, über diese weiten, aufgeworfenen Eisflächen zu gehen.
Dann bist du aufgebrochen – ins Eis, in Stürme, in grosse Kälte. Du hast mit Handschuhen gegessen, mit Mütze geschlafen und körperliche Höchstleistungen vollbracht. Was war in dieser Zeit das Härteste für dich?
Als wir uns bei einer Tour in Grönland im Team nicht verstanden haben. Das war mental eine grosse Belastung. Am Nordpol hatten wir eine gefühlte Temperatur von minus 68 Grad. Das tut weh, klar, und man muss viele Schmerzen aushalten. Aber sowas macht mir weniger aus, als wenn es im Team nicht funktioniert.
Und was hat dich zum Lachen gebracht?
Bei der Nordpolexkursion mit Thomas Ulrich haben wir unglaublich viel gelacht, oft völlig erschöpft. Mit zunehmender Übermüdung wird man albern und lacht über die kleinsten Dinge. Das konnten wir beide besonders gut.
Wie war das auf diesen Expeditionen als Frau unter Männern? Du warst damals Mitte, Ende 30.
Mit den echten Abenteurern während der Expeditionen war es wunderbar. Das sind kompetente Männer, die eine Frau nie herabwürdigen würden. Dort habe ich zum ersten Mal erlebt, wie man einfach eine Person sein kann, und dass es völlig egal ist, dass man eine Frau ist. Das hat mir für mein ganzes Leben sehr viel Freiheit gegeben.
Wenn ich heute als «Frau» behandelt werde, weiss ich, dass nicht ich, sondern ein Bild von einer Frau gemeint ist. Von weniger erfahrenen Männern habe ich auch schon Sätze gehört wie: «Gut, dass du dabei bist, dann wissen wir, wer kocht». Anstelle mich darüber zu ärgern, habe ich diesen Satz zum Titel eines Vortrags über genau dieses Problem gemacht. Der ist total erfolgreich.
Früher waren es Entdeckungsdrang und Abenteuerlust, die dich in den Norden zogen. Heute liegt dein Fokus auf dem Schutz der Arktis. In deinem Buch «Nachruf auf die Arktis» schilderst du die Veränderungen, die du durch den Klimawandel beobachtet hast. Was macht dich besonders betroffen?
Dass es Orte nicht mehr gibt, die ich sehr geliebt habe. Spitzbergen ist immer noch eindrücklich und wunderschön. Es gibt immer noch viel Eis. Aber wenn man weiss, dass an einer bestimmten Stelle vor 15 Jahren die Gletscherkante noch im Wasser lag und heute nur noch Toteis an Land liegt, dann macht das traurig.
Was ist Toteis?
Reste von Gletschereis, die sich nicht mehr bewegen, sondern nur noch weiter abschmelzen.
Um dem entgegenzuwirken, hast du unter anderem mit dem Alfred-Wegener-Institut ein Plastikmüllprojekt entwickelt.
Wir wollten herausfinden, wie stark selbst abgelegene Orte schon mit Zivilisationsmüll belastet sind. Auf jeder Reise haben wir an einem Strand wissenschaftlich Müll gesammelt, sortiert und gewogen. Die Daten gingen in wissenschaftliche Datenbanken. Wir waren die Ersten, die in Spitzbergen dazu geforscht haben und haben viel Aufmerksamkeit erhalten.
Was kam raus?
Die Strände in der entlegenen Arktis sind ähnlich stark verschmutzt wie Küsten in dicht besiedelten Gebieten. Der Plastikmüll hat die Arktis und ihr Ökosystem längst erreicht. Inzwischen sammle ich Tierkot, der auf Mikroplastik untersucht wird. Wir wollen herausfinden, ob Eisbären, Rentiere oder Polarfüchse damit in Kontakt kommen.

Auch der Polarkapitänin Sophie Galvagnon liegt die Arktis am Herzen. Wie du hat sie sich in einer von Männern dominierten Branche einen Namen gemacht. Sie ist Mitgründerin der Reederei Selar, die derzeit das nahezu emissionsfreie Schiff Captain Arctic baut. Im Mai 2027 wirst du an Bord dieses Solar-Segelschiffs als Expertin eine Reise von Background Tours begleiten.
Reisen sind für mich ein zweischneidiges Thema. Ich setze mich für Klimaschutz ein, begleite aber Touren, die zwangsläufig Emissionen verursachen. Deshalb fasziniert mich das Projekt von Selar. Die «Captain Arctic» ist ein aufregender und wichtiger Schritt. Sie zeigt, dass Nachhaltigkeit und Komfort kein Widerspruch sein müssen.
Wenn Reisen mit deutlich weniger CO₂-Ausstoss möglich werden, wäre das ein enormer Fortschritt! Es ist ein echtes Pionierprojekt, fast wie einst Nansens «Fram». Ich bin sehr gespannt, wie es ist, mit ihr zu fahren und hoffe, es wird ein Erfolg und findet viele Nachahmer.
Was erwartet die Teilnehmer*innen dieser Reise nebst dem innovativen Schiff?
Im Mai ist die Arktis besonders schön. Die Berge sind oft noch verschneit, das Licht ist klar, die Natur erwacht. Im Frühling hat man meist noch gute Chancen auf Meereis. Dort sieht man vielleicht Tiere – Eisbären, Wale oder die ersten zurückkehrenden Vögel. An Land kann man Rentiere, Polarfüchse oder Spuren früherer Expeditionen finden, aus einer Zeit, als die Arktis noch weitgehend unerforscht war.
Die Reise ist sehr vielfältig und wir sind flexibel unterwegs. Wenn plötzlich Buckelwale auftauchen, bleibt die geplante Wanderung eben liegen. Das macht den Reiz aus. An Land erkläre ich viel direkt vor Ort, an Bord vertiefen wir das Gesehene in Vorträgen. Manchmal passt auch eine kleine Lesung dazu. Für mich sind das Naturbildungsreisen.

Was machst du auf solchen Reisen mit den Gästen am liebsten?
Ich mache vieles sehr gern, aber am schönsten ist für mich immer die «arktische Stille». Wenn wir an Land sind, suchen sich alle einen Platz, setzen oder legen sich hin, und dann wird einfach geschwiegen. Kein Rascheln, kein Reden, kein Bewegen. Man taucht tief in die arktischen Geräusche ein. Danach ist die ganze Gruppe immer so glücklich und verbunden. Es ist wahnsinnig schön, das zusammen zu erleben.
Birgit, was hat dir die Arktis fürs Leben zu Hause, am Schliersee in Oberbayern, beigebracht?
Ganz viel Demut. Ich weiss, dass ich nie stärker bin als die Natur. Man kann sich ihr nur anpassen, nicht gegen sie ankämpfen. Und Zufriedenheit. In dieser scheinbar kargen Landschaft lernt man, die kleinen Dinge zu sehen und zu schätzen – kleine Blumen zum Beispiel. Viele denken bei der Arktis nur an Eisbären. Aber oft sind es doch die kleinen Dinge, die viel wichtiger sind. In der Arktis wie im ganzen Leben.
Kurzbio Birgit Lutz und Spitzbergen-Expedition im 2027
Schon während ihrer Zeit als Journalistin bei der «Süddeutschen Zeitung» unternimmt Birgit Lutz (1974) erste Arktisexpeditionen. Sie erreicht auf Skiern den Nordpol und durchquert eigenständig Grönland. Seit 2015 arbeitet sie als Autorin, Vortragsrednerin und Expeditionsleiterin. In ihren Büchern und Vorträgen berichtet sie über den Klimawandel und die Menschen und Landschaften des Nordens. Birgit Lutz begleitet für uns ausgewählte Reisen.
Unsere nachhaltige Spitzbergen-Expedition mit Birgit Lutz an Bord der «Captain Arctic» findet vom 06. bis 16. Mai 2027 statt. Mehr über die Reise, persönliche Beratung und Buchung via Button unten oder hier:
