Die mehrfach ausgezeichnete Autorin Vortragsrednerin und Background Tours-Expertin Birgit Lutz ist seit zwölf Jahren als Guide und Expeditionsleiterin in der Arktis unterwegs. 2013 durchquert sie selbst organisiert Grönland auf Skiern und wird dafür zum «Fellow» des renommierten «Explorers Club» in New York ernannt. Der Text auf dieser Seite ist ein Auszug aus ihrem Buch «Heute gehen wir Wale fangen». Ein fesselndes und einfühlsames Porträt Ostgrönlands und seiner Bewohner*innen.
Lesetipp: «Heute gehen wir Wale fangen» von Birgit Lutz
Der Hubschrauber senkt sich auf den Landeplatz nieder, eine Kiesfläche, die in den felsigen Untergrund geebnet wurde. Neben diesem Helipad steht ein Bagger, unser Gepäcktransport. Wir springen aus dem Hubschrauber, ich nehme meine Tasche und schaue mich um, vom Landeplatz aus sieht man nur einige Häuser, die weiter oben auf den Felsen stehen.
Eine steile Schotterstrasse führt den Hügel hinauf. Schlittenhundeaugen lugen neben der Strasse zu uns herüber, ein ganzes Gespann liegt dort an einer Kette, regungslos.
Maarten und ich schauen uns an und dieses prickelnde Gefühl, das jetzt etwas Neues anfängt, wird immer noch stärker. Wir lachen aufgeregt. Das wird spannend werden hier. Der Baggerfahrer, gekleidet in der Pilersuisoq-Supermarkt-Uniform mit Krawatte, steigt ab und erklärt auf Englisch, dass er unser Gepäck zum Laden in der Dorfmitte fahren wird.
Auf der Schotterstrasse taucht eine junge Frau auf. Sie zieht ein Tuch eng um ihre Schultern und stellt sich uns als Edvardine vor. Erfreut streckt sie uns die Hand entgegen und heisst uns in Sermiligaaq willkommen. Zusammen gehen wir den Weg hinauf. Edvardine klärt uns über die Infrastruktur des Dorfs auf – hier die Schule inklusive Kirche, dort der Laden, dort das Servicehaus. Und gegenüber ihr Büro. Fertig. Sermiligaaq stellt sich als sehr übersichtlich heraus. (...)
Ein angenehm beruhigendes Stimmengewirr schwirrt aus der Wohnküche in unser Zimmer, als wir kurz einige Sachen auspacken. Ich stelle mich ans Fenster, durch das eine sanft wärmende Herbstsonne in den Raum fällt. Direkt gegenüber von uns liegt die Schule, auf dem dazugehörenden Spielplatz wiegt sich eine Schaukel im leichten Wind. Wir gehen in den Pilersuisoq, um ein paar Sachen einzukaufen.
Der Laden ist klein, aber gut sortiert, es gibt eine Theke mit frischem Brot und eine mit Munition, beim Brot wird man bedient, die Munition kann man selbst aussuchen. Ein Kühlfach mit Fertigpizza und Joghurt surrt vor sich hin, darüber hängen Gewehre, neben einer Palette mit pinken Barbiepuppenschachteln. Wir betrachten die Rainbow-Princess-Barbie und finden, Grönland sollte eine Jagdbarbie bekommen.
Wir treffen unseren Gepäckbaggerfahrer wieder, bei dem wir bezahlen und der uns dann aus der Tür begleitet. (...) Als er seine Zigarette fertig geraucht hat, winkt er uns zu und kehrt zurück in den Laden. (...)
Allein bleiben wir auf dem staubigen Platz zurück. Es ist noch nicht einmal Mittag. Tage in Grönland sind lang, sie haben viel mehr Stunden als Tage in Europa, das ist das wunderbare an diesem Land, man bekommt ein, zwei Leben an Zeit dazu geschenkt. (...)
Wir gehen ins Servicehaus um zu frühstücken, heute Morgen um fünf war es uns zu früh dafür. Wir machen uns Kaffee und setzen uns mit unseren Müslischalen zu den Frauen an den Tisch, die unser Tun aufmerksam mit den Augen verfolgen. Eine schiebt uns den Zucker über den Tisch zu und lächelt.
Die Frau an der Kasse steht auf und zeigt uns Fotos auf ihrem Handy. Sie sind aus der Umgebung des Dorfs, und zu jedem Foto zeigt sie in die Richtung, in der es aufgenommen wurde. Das ist ihre Form der Touristeninformation.
Eines der Bilder muss fast vom Gipfel des Bergs hinter dem Ort aufgenommen worden sein, es zeigt eine wundervolle Aussicht über den Fjord, an dessen Ufer das Dorf nur noch durch bunte Tupfen erkennbar ist. Sie bläst ihre Wangen auf, zeigt in Richtung Berg und mimt Steigbewegungen. Alle Frauen und auch wir fangen zu lachen an, aber es ist klar, was sie sagen will – dass es anstrengend ist, in dem weglosen Gelände bis dort hinauf zu kraxeln. (...)
Maarten und ich beschließen, das Dorf zu erkunden. (...) Wir überblicken den Fjord mit einigen Eisbergen, am Ende sehen wir Gletscher und in der Ferne sogar das Inlandeis. Wir setzen uns auf einen Felsen und versuchen wieder einmal, die Dimension Grönlands und des Lebens auf dieser Insel zu begreifen.
Soweit das Auge hier reicht, trifft es auf kein anderes Zeichen von Menschen, auf keine Siedlung, keine Autos, keine Strasse. Es gibt ja nicht einmal im Dorf eine Strasse. 210 Menschen wohnen in Sermiligaaq und diese Menschen sind für manche hier immer noch die einzigen, die sie in ihrem ganzen Leben sehen werden – abgesehen von einigen wenigen Besuchern wie uns.
Die Menschen leben in einer Welt, die sie in ihrer Gänze überblicken können, es gibt nichts Unbekanntes darin. Das erinnert mich an Massantis Worte: Die Welt vieler Menschen hier reicht nur bis zu den Bergen auf der anderen Seite des Fjords. Schon die Rückseite der Berge gehört nicht mehr dazu, und nichts, was dahinter ist. Massanti sah darin etwas Schlechtes. Aber ist es nicht vielleicht auch etwas Gutes? Als ich über die Pracht blicke, die sich uns bietet, stelle ich mir vor, in einem der Häuschen dort unten zu wohnen: Hier würde ich das reduzierte, das unkomplizierte Leben führen, nach dem sich manch gestresster Europäer so sehnt. (...)
Nun stamme ich aber, anders als Massanti, eben aus der europäischen Überflussgesellschaft, und diese luxuriöse Position macht es erst möglich, dass in mir der Wunsch erwächst, weniger zu haben. Massanti kennt solche Wünsche nicht, denn wie es ist, mit wenig auszukommen, das weiss er, und zwar unfreiwillig. Und es ist nichts, was für ihn erstrebenswert wäre.
Signiertes Buch
Das Buch ist im btb Verlag erschienen und in jeder guten Buchhandlung oder direkt bei Birgit Lutz erhältlich, die es gerne für Sie signiert. Schreiben Sie ihr eine E-Mail:
birgit @birgit-lutz.de