In der Rubrik «Reisepionierinnen» des Globetrotter-Magazins stellt unser Experte Oskar Kaelin frühe Reisende vor, deren Berichte und Entdeckungen für das Verständnis der alten und der modernen nahöstlichen Welt fundamental sind. Der Beitrag über Gertrude Margaret Lowthian Bell (1868–1926) erschien im Globetrotter-Magazin Nr. 149 (Frühling 2024).

Königin der Wüste
«‹Gott sei gepriesen›, sagte er und hielt kurz inne, als er mich erblickte. ‹Es ist gut, dass Eure Exzellenz Zeuge des Handelns der Sattler von Aleppo wird. Sie sind ohne Scham. Seit mehr als 30 Jahren lebe ich in Aleppo, und bis heute bat mich noch niemand, zwei Piaster für ein Stück Schnur zu geben.› Er warf einen vernichtenden, von konzentrierter Feindseligkeit geprägten Blick auf die langgewandete Gestalt, die mit der Schnur in der Hand auf dem Tresen stand. ‹Allah›, sagte ich vorsichtig, denn ich wollte meine Unkenntnis über den Marktwert von Schnüren nicht zur Schau stellen. ‹Zwei Piaster?›»
Grande Dame der Nahostforschung
Das vielen Reisenden vertraute Feilschen ereignete sich 1909 auf dem Souk von Aleppo in Syrien, unter der eindrücklichen Zitadelle, die auf dem Ruinenhügel der über 5000-jährigen Stadt steht. Die Szene eröffnet den frühesten Klassiker von Gertrude Bell, «Amurath to Amurath», in dem die Grande Dame der Nahostforschung ihre Reise von Aleppo dem Euphrat entlang nach Hit, Kerbala und Bagdad lebendig erzählt – quer durch Mesopotamien, vorbei an tausendjährigen Ruinenfeldern.
Zwischen ihre wissenschaftlichen Beobachtungen sprenkelt sie, so auch in «The Desert and the Sown», Gespräche mit Leuten des Landes: «Diejenigen, die an unseren Feuern sitzen, und diejenigen, die mit uns über Wüsten und Berge reiten, denn ihre Worte sind wie Strohhalme auf der Flut der asiatischen Politik, die zeigen, in welche Richtung die Ströme fliessen».
«Sie gilt als Königin oder Tochter Arabiens beziehungsweise der Wüste, als Frau, die den Irak erfand, als Abenteurerin, als Beraterin von Königen, die den Nahen Osten bis heute prägten.»
Gertrude Bell stammt aus einer wohlhabenden Industriellenfamilie und war Pionierin in vielen Gebieten. In Oxford schloss sie als erste Frau das Studium der Neuen Geschichte ab (1888), in den Alpen erkletterte sie den Mont Blanc und als Erste die nach ihr benannte Gertrudspitze sowie weitere Gipfel im Berner Oberland (1901).
Grundsteine unseres Wissens
In Persien (1892) lernte sie die Sprache und übersetzte die Gedichte des Hafiz ins Englische. In Jerusalem (1899) verbesserte sie ihr Arabisch und begann ihre Reise-, Erkundungs- und Forschungstätigkeit. Sie nahm an der Untersuchung der Region Binbirkilise «1001 Kirchen» in der Türkei teil (1905), besuchte laufende Grabungen, mit denen Archäologen die Grundsteine unseres Wissens legten, darunter Orte wie Karkemisch, Babylon und Assur.
Bell beschrieb unzählige archäologische und kunsthistorische Stätten des Nahen Ostens, die sie zudem – auch hier eine Vorreiterin – detailreich fotografierte. 1909 entdeckte sie den Wüstenpalast von Uchaidir im Irak: «Wir waren etwa drei Stunden lang durch eine äusserst unwirtliche Wildnis geritten, als wir vor uns im grellen Licht eine grosse Masse erblickten, die ich für ein natürliches Merkmal in der Landschaft hielt. Doch je näher wir kamen, desto deutlicher wurde seine Form, und ich fragte, was es sei. Es ist Uchaidir, sagte er. Yallah, Fattuh, bring die Maultiere her, rief ich und galoppierte vorwärts.» Über Jahre widmete sich Bell der Erforschung dieser imposanten Anlage.
Politische Verbindungsoffizierin
Wegen ihrer herausragenden Kenntnisse diente Gertrude Bell als inoffizielle Mitarbeiterin des britischen Secret Intelligence Service (später MI6), dann als politische Verbindungsoffizierin. Während ihrer Reise von Damaskus nach Hail in Arabien (1913/1914) evaluierte sie potenzielle Verbündete für einen arabischen Aufstand gegen das Osmanische Reich, den später Thomas Edward Lawrence alias «Lawrence of Arabia» durchführte.
Als Vertraute des irakischen Königs Faisal I. beeinflusste sie die Gründung des Irak (1921), wo sie bis zu ihrem Tod blieb und bestattet wurde. Der Schatz an Wissen, den sie mit ihren Büchern, Berichten, Briefen und Tausenden von Fotos zu heute teilweise verlorenen Stätten hinterlassen hat, ist längst nicht vollständig gehoben.
Die Frau, die den Irak erfand
Viele Bücher wurden über Gertrude Bell geschrieben, Filme und Comics produziert. Allein deren Titel skizzieren ihr Sein und Wirken: Sie gilt als Königin oder Tochter Arabiens beziehungsweise der Wüste, als Frau, die den Irak erfand, als Abenteurerin, als Beraterin von Königen, die den Nahen Osten bis heute prägten.
Ihr wichtigstes Denkmal schuf sie in ihren letzten Lebensjahren selbst: das irakische Nationalmuseum in Bagdad (1926) zur Bewahrung des kulturellen Erbes des Landes; es wurde 80 Jahre später (2003) geplündert und 2015 wieder eröffnet.
Fasziniert blieb Gertrude Bell ihr Leben lang von der Wüste mit ihrer Stille und Einsamkeit: «Aber was für eine Welt! Unglaubliche Einsamkeit – von Gott und Mensch verlassen, so sieht es aus und ist es auch. Ich glaube, niemand kann hierher reisen und als derselbe Mensch zurückkehren. Es drückt dir seinen Stempel auf, zum Guten oder Schlechten.»