Wilfried König im Tibet.

Mit dem Zug von Xining nach Lhasa

 |  Hintergrund, Reisebericht

Eine kurze Reportage von unserem Experten Wilfried König über seine abenteuerliche Bahnreise von Xining nach Lhasa.
 

Gegen 18 Uhr wird die schwere Kette von der Tür des «Softsleeper First Class» Warteraumes genommen und die Passagiere dürfen nach zwei Stunden Wartezeit auf den Bahnsteig treten. Noch ist der Zug nicht eingefahren. Wir sind privilegiert, denn die Fahrgäste der «Holzklasse» müssen noch warten.

Dann ein sehr lauter Signalton, und in der Ferne taucht die erste der beiden schweren Dieselloks mit eingeschalteten Scheinwerfern auf. Langsam nähert sie sich dem Bahnhof Xining.

Die fotografierenden Touristen müssen immer wieder vom Stationsvorsteher und den schrillen Signalen des Zuges zurückgepfiffen werden. 

Um 18.40 Uhr springt das Signal auf grün. Die zwei Loks und die elf angehängten Wagen setzen sich langsam in Bewegung. Auf dem Bahnsteig salutiert Wachpersonal. Es kann losgehen.

Ein Prestigeobjekt

Die sogenannte Tibet-Bahn wird eine der technischen Meisterleistungen dieses Jahrhunderts sein. Die Verlängerung der schon bestehenden Trasse von Xining nach Golmud und deren Eröffnung am 1.7.2006 bis Lhasa ist allerdings ebenso grandios wie kontrovers.

Was vom offiziellen China als Verbesserung der Mobilität für Tibeter und Chinesen bezeichnet wird, ist für Chinakritiker ein weiterer Beweis dafür, dass das Reich der Mitte die umstrittene Region nun noch besser kontrollieren kann. Rechnen tut sich das Projekt auf keinen Fall.

Durch die billigen Fahrpreise und den Unterhalt der Strecke werden die geschätzten 3,3 Milliarden Euro Baukosten auch in Jahrzehnten nicht wieder amortisiert. Aber darum geht es bei dem Prestigeobjekt auch nicht, von dem schon Mao Zedong gleich nach der Besetzung Tibets 1950 träumte.

«Seit einigen Jahren schon zieht es sie nach Lhasa, denn dort herrscht Pioniergeist.»

Da ich eine Reisegruppe zu betreuen und versorgen habe, gilt der nächste Gang dem Speisewagen. Alle chinesischen Fernzüge haben so einen Waggon, wo in einer winzigen Küche erstaunlich gut und preiswert gekocht wird. Die Unterhaltung gestaltet sich etwas schwierig, da die uniformierte Chefin einen ausgeprägten Sichuan-Dialekt spricht, und nach jedem vorbestellten Gericht «sehr scharf oder scharf?» fragt.

Als Zeit- und Menüplan endlich abgestimmt sind unter Anteilnahme der gesamten Restaurant-Besatzung, bricht die Dämmerung herein über der endlosen Weite des tibetischen Hochlandes.

Die Yakherden verlieren an Kontur, und die einsamen Lastwagen auf der Strasse parallel zum Schienenstrang schalten das Licht ein. Der Zug fährt ohne das typische Klackediklack in den Abendhimmel, während die taiwanesische Reisegruppe in einem Anfall kollektiver Panik fast geschlossen Sauerstoff schnüffelt.

Gegen 4 Uhr morgens verlangsamt der Zug die Fahrt, wir fahren in den Bahnhof Golmud ein. Es bleibt alles gespenstisch leer bis der Zug steht und Waggontüren und Bahnhofssperren geöffnet werden.

Dann allerdings ist einiges los. Wanderarbeiter mit schweren Bündeln, Mütter mit Kleinkindern, aufreizend angezogene junge Frauen mit Stöckelschuhen, alles tummelt sich auf dem Bahnsteig, Glücksritter zumeist auf der Suche nach einem menschenwürdigen Dasein, einer Existenzmöglichkeit. Seit einigen Jahren schon zieht es sie nach Lhasa, denn dort herrscht Pioniergeist.

Ein Rucken, das durch den Zug geht zeigt an, dass nun die dritte der extraschweren Loks angekoppelt wurde. Sie dient zur Überwindung der höchsten Stelle der Trasse, des mit 5072 Metern höchsten Punktes, der je von einer Bahn überfahren wurde, dem Tangula-Pass.

Endziel: Die «Stadt der Götter»

Wie es hell wird hat sich die Landschaft verändert. Wir fahren nun auf dem neuesten Teilstück der Tibet-Bahn. Das Gelände ist hügeliger, Berge tauchen auf, die um- oder durchfahren werden. So auch der Fenghuo Shan-Tunnel von fast fünf Kilometern Länge. Die Trasse verläuft jetzt oft auf Stelzen, teilweise kilometerlang.

Wo der Bahndamm aufgeschüttet ist grenzen ihn Zäune gegen die wilden Yakherden oder Tibet-Antilopen ab.

Da wo das Durchzugsgebiet der Tiere ist, fährt der Zug auf Betonpfeilern, die zum Teil künstlich gekühlt metertief im Dauerfrost-Boden verankert sind. In der Ferne tauchen Siebentausender auf, schneebedeckt. Der Zug fährt an tiefblauen Seen vorbei, die aussehen als würden sie den grenzenlosen Himmel spiegeln. Dann ein Fluss.

Die Schaffnerin klärt mich auf, dass das der Yangtze sei, der hier noch «Tuotuohe» heisse. Spätestens jetzt werden mir die Dimensionen bewusst, die wir hier erleben. Höchster Eisenbahn-Pass der Erde, Yangtze-Überquerung, Endziel die «Stadt der Götter», alles Superlative, die man spontan nicht auf die Reihe kriegt. Aber Realität!

Ab Damhsung, drei Stunden vor Lhasa, kommt noch mehr Abwechslung auf. Der Zug fährt jetzt wieder entlang der Strasse, kreuzt sie manchmal. Militärkonvois kommen in Sicht, wieder Lastwagen und, selten, PKWs. Kleine Tibeter mit Rotznasen winken den Passagieren zu. Schafhirten mit der Wollspindel in der Hand drehen sich dagegen noch nicht einmal um wenn der Zug ihre Herden passiert.

Dann eine halbe Stunde vor Einfahrt in den Bahnhof Lhasa spricht sich herum: «Der Potala ist zu sehen.»

Tatsächlich, dort thront er, noch weit weg aber gut erkennbar, als Relikt aus einer anderen Zeit. Aus einer Zeit als «die Pferde noch nicht aus Eisen waren», wie Padmasambhava, der tibetische Religionsgründer, einmal sagte.

Pünktlich um 16.32 Uhr fährt der Tibet-Express in den dem Potala nachempfundenen Hauptbahnhof von Lhasa ein. «Dao le!», sagt die Schaffnerin. Angekommen also, in der Stadt der Götter.