Einmal im Leben einen Jaguar in freier Wildbahn zu beobachten, ist der lang ersehnte Wunsch von Lisa Steil und ihrem Partner Markus Pierstorf. Der Weg zur Erfüllung dieses Traums im Südwesten Brasiliens ist beschwerlich und wunderschön. Und am Ende kommt alles viel besser, als es sich die beiden je zu wünschen gewagt haben. Ein Auszug aus der Reportage von Lisa Steil, die in der Herbstausgabe 2019 des Globetrotter Magazins erschienen ist.
Auf den Spuren von Fritz Walter
Nervös rutsche ich auf der Rückbank des Land Rovers hin und her. Neben mir mein Partner Markus. Der Fahrer brettert die unbefestigte Strasse entlang. Den Schlaglöchern weicht er nur selten aus. In meinem Inneren ist es chaotisch – einerseits spüre ich Vorfreude, andererseits tiefe Anspannung. Im Kopf kreist die Frage, um die sich in den kommenden Tagen alles dreht: Wird sich unser grosser Wunsch erfüllen? Werden wir einen Jaguar in freier Wildbahn sehen?
Gezielt sind Markus und ich dazu ins Herz von Südamerika gereist: das sagenumwobene Pantanal im Südwesten Brasiliens. Das riesige Sumpfgebiet ist bekannt für seinen Artenreichtum. Stolz kann sich das Naturparadies mit der höchsten Jaguarpopulationsdichte der Erde brüsten. Schon lange fasziniert uns die Grosskatze. Obwohl sie nur die drittgrösste Art der Welt ist, verfügt sie über die stärkste Beisskraft von allen.
Der Weg zum Camp führt über die staubige Transpantaneira, die 150 Kilometer von Nord nach Süd verläuft. Dazwischen liegen 127 hölzerne Brücken in fragwürdigem Zustand. Ausgerechnet heute wird eine davon abgerissen und neu errichtet – augenscheinlich eine gute Entscheidung. «Entlang der Strasse sind Tiersichtungen häufig», erklärt uns der Brasilianer Eddy, der uns in den nächsten Tagen auf unserer Expedition begleiten wird. 20 Jahre Erfahrung als Guide im Amazonas und im Pantanal – das klingt vielversprechend.
Und tatsächlich dauert es nicht lange, bis sich die ersten Tiere zeigen. Ein storchenartiger Vogel mit dem Namen Tuiuiú stapft auf der Suche nach Fischen munter durch das hohe Sumpfgras. Er ist das Wappentier des Pantanal. Wenig später entdecke ich vier kobaltblaue Hyazinth-Aras, die über uns hinwegfliegen und sich in einer Palme niederlassen. Für Vogelliebhaber ist das Pantanal ein Paradies. Das Feuchtgebiet beherbergt geschätzt 665 Arten – mehr, als alle Länder Europas zusammen.
Als wir die Fahrt fortsetzen, treffen wir auf die ersten Säugetiere: Ein Sumpfhirsch und ein Wasserschwein, das grösste Nagetier der Erde, lassen sich das saftige Gras abseits der Strasse schmecken. Aus der Entfernung erkenne ich die Silhouette eines stattlichen Kaimans, der sich mitten auf der Transpantaneira niedergelassen hat. Völlig unbeeindruckt lässt er sich die Sonne auf den gepanzerten Rücken scheinen.
Nachdem wir ein paar weitere Brücken überquert haben, schlängelt sich unmittelbar vor unserem Auto eine Natter quer über die Fahrbahn. Nie hätte ich damit gerechnet, dass bereits die Anreise so ereignisreich werden könnte. Ob wir mit den Jaguaren genauso viel Erfolg haben werden? Nach dem grossartigen Start bin ich guter Dinge.
Erste Expedition
Im Parque Estadual Encontro das Aguas, den wir per Boot ansteuern, treffen fünf Flüsse und verschiedene Vegetationsarten zusammen. «Das Areal ist ein idealer Lebensraum für den Jaguar. Mehr als 120 Tiere gibt es hier», sagt Eddy. 120? Wow! Na, wenigstens einen von ihnen sollten wir in den nächsten vier Tagen doch zu Gesicht bekommen, rede ich mir Mut zu.
Die Landschaft gefällt uns trotz der Regenfälle sehr gut, denn die Flora leuchtet in üppigem Grün. Das weiss auch die Wasserschweinfamilie zu schätzen, die auf einer Sandbank im Fluss Gras mampft. Als Capybara führt man im Pantanal ein gefährliches Leben, denn die bis zu 70 Kilo schweren Nager zählen zur bevorzugten Beute des Jaguars. Von uns lassen sie sich zum Glück nicht stören.
Mittlerweile sind wir durchnässt bis auf die Unterwäsche, denn auch unsere Regenjacken können den Wassermassen, die unaufhörlich vom Himmel stürzen, nicht mehr standhalten. Der Fahrtwind lässt uns sogar frösteln. Immer wieder müssen wir stoppen. «Während der starken Regenfälle ist die Weiterfahrt zu gefährlich», sagt Kapitän Cesar. «Hoffentlich gibt es kein Gewitter! Ein Blitzeinschlag im Boot kann tödlich sein», ergänzt Eddy. Was haben wir uns da nur eingebrockt? […]
Doppeltes Glück
Es ist ein herrlicher Morgen, als wir um kurz vor sieben Uhr ins Boot steigen. Die ersten Sonnenstrahlen spiegeln sich auf der Wasseroberfläche. Ich erschrecke, als Cesar nach nur kurzer Zeit abrupt den Motor stoppt. Was ist passiert? Dann ruft Eddy das magische Wort: «Jaguar!» Ich folge den Blicken der anderen. Direkt am Flussufer sitzt sie, die majestätische Gross- katze, die neugierig in unsere Richtung schaut. Als hätte sie dort jemand für uns platziert.
Vor lauter Aufregung bin ich nicht mal in der Lage, nach der Kamera zu greifen. Gott sei Dank reagiert Markus: «Ich mach das schon, schau du dir den Jaguar an.» Ich kann es kaum fassen. Neben jeder Menge Adrenalin und Glücksgefühl macht sich eine riesengrosse Erleichterung in mir breit. Die ganze Anspannung fällt von mir ab und fliesst in Form einer Freudenträne meine Wange hinunter. Wir haben es geschafft!
Plötzlich überschlagen sich die Ereignisse. Nur wenige Meter nebenan schleicht ein zweiter Jaguar aus dem Gebüsch! Sogar Eddy und Cesar haut das aus den Socken. Gleich mehrere Jaguare anzutreffen, ist äusserst unwahrscheinlich. Und das auch noch in der Regenzeit! Gebannt beobachten wir die beiden Schönheiten, die nach einer Weile wieder im Dickicht verschwinden.
Noch immer kann ich das gerade Erlebte nicht realisieren, noch immer pocht mein Herz. «You are very lucky, man!», beglückwünschen uns auch die vier Einheimischen, die per Boot unseren Weg kreuzen. Das Lächeln werden wir heute nicht mehr ablegen.
«Wenn es wirklich unbekannte Jaguare sind, dürft ihr die Namen für sie aussuchen.» Hab ich mich verhört? Der Campbesitzer lacht, als er mein verdutztes Gesicht sieht. «So handhaben wir das hier», erläutert er, «wer sie erstmals entdeckt, darf sie benennen.» Zurück in der Zivilisation, erreicht uns wenige Tage später die Nachricht der Biologin: Die beiden Grosskatzen waren in der Tat noch unbekannt. Und wer kann schon von sich behaupten, Namensgeber von Jaguaren im Pantanal zu sein?
Nachtrag
Den einen Jaguar benannten sie nach der deutschen Fussballlegende Fritz Walter. Das Geschlecht des zweiten Jaguars konnte bislang nicht bestimmt werden, er bleibt deshalb bis auf Weiteres namenlos.
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