Derweze – Das Tor zur Hölle

Turkmenistan «Derweze»

von Bastian Sünkel

Die beliebteste Attraktion Turkmenistans, des nordkoreahaft abgeschotteten Landes in Zentralasien, ist ein brennendes Gasloch mitten in der schneebedeckten Wüste.

Ich habe alles erwartet, aber keine Kamele im Schnee. Der Bus stoppt auf halber Strecke zwischen Aschchabad und Daschogus, mitten in der Wüste Karakum, die sich über das Zentrum Turkmenistans erstreckt. Es ist noch vor der Pandemie und eiskalt. Kälter als in Aschchabad, diesem surrealen Ort menschlicher Entfremdung: menschenleere Prachtstrassen, Kameras und Polizeiüberwachung im – übersetzt – «Ort der Liebe». Die Wüste ist nicht weniger surreal, aber ehrlicher. In der Wüste ist es nicht weiss, weil es die Lieblingsfarbe des früheren Diktators ist. Ganze Stadtviertel hat Gurbanguly Berdimuhamedow weiss und golden aus dem Boden stampfen lassen, bevor er im März 2022 die Macht an seinen Sohn Serdar Berdimuhamedow weitergegeben hat. In der Wüste ist es weiss, weil es kalt ist. Es liegt Schnee, zum ersten Mal seit etwa vier Jahren, erfahre ich später. Als ich aussteige, frage ich mich, ob ich hier sterben werde. Der Bus fährt ab, die Passagiere blicken mir nach, als müssten sie Abschied nehmen – für immer.

Ich merke, dass ich nicht auf dieses Land vorbereitet bin. Wäre ich im beheizten Bus sitzen geblieben, hätte ich mich weiter mit dem Arzt auf der Rückbank in einfachstem Englisch über das Leben in Deutschland und in Turkmenistan unterhalten können. Dabei hat sogar er verschlossen auf mich gewirkt. Turkmenen, die nicht in einer Polizeiuniform stecken, gehen mir auf der Strasse aus dem Weg. Niemand hier will etwas Falsches sagen, vor allem nicht zu Fremden. Die Staatspolizei habe überall ihre Ohren, hat mir in der Hauptstadt Aschchabad die Hotelangestellte Anna erzählt, zu ihrem Schutz habe ich ihren Vornamen hier geändert. Alle haben Angst, verhört zu werden. Zum Rauchen haben wir uns hinter dem Gebäude versteckt, wo uns das CCTV Turkmenistan nicht sehen konnte. Ich habe schon in Georgien VPN-Clients heruntergeladen, nur um in Aschchabad festzustellen, dass keiner funktioniert. Die Staatsinformatiker haben mittlerweile auch einen Grossteil der privaten Kommunikationsnetze gehackt, erfahre ich später. Das Internet ist zensiert.


Die russischstämmige Anna in Aschchabad ist meine einzige Hilfe in diesen Tagen. Sie wechselt für mich Dollar in Manat – illegal. Sie erklärt mir, dass Devisenwechsel in Aschchabad verboten sei. DollarPreise sind zum Teil aber doppelt so hoch wie Manat-Preise. Während ich unter einem Nadelbaum warte, läuft sie mit hochgezogener Kapuze in ein illegales Wechselbüro, danach entschuldigt sie sich für den schlechten Kurs. Den Präsidenten nennt sie übrigens «Papa». So wie jeder hier, sagt sie.

Touristen gibt es an diesem stechendkalten Herbsttag keine am Krater von Derweze. Das Tor zur Hölle. Einen seit Jahrzehnten brennenden Gaskrater. Ein Relikt aus Sowjetzeiten, vermutlich der gescheiterte Versuch, ein Gasfeld zu erschliessen. Bewiesen ist das nicht. Damals hat man sich dagegen entschieden, das Feuer zu löschen. Zu teuer, zu kompliziert, lautet die landläufige Begründung. Allerdings scheint das Gasvorkommen wie die Hölle ein ziemlich weites Feld zu sein. Ausschweigen hat nicht funktioniert, es brennt einfach weiter. Die Existenz des endlos lodernden Lochs mit 69 Metern Durchmesser drang an die Öffentlichkeit und etablierte sich seitdem als eine der beliebtesten Attraktionen Turkmenistans. Anfang Januar 2022 hat «Papa» angekündigt, das Loch zu schliessen. Nun wartet er auf wissenschaftliche Expertise, wie es gelöscht werden kann, etwa ein halbes Jahrhundert nach dem ersten Funken.

Der Krater liegt etwa acht Kilometer von meiner Bushaltestelle entfernt in der Wüste. Im Sommer fahren von hier aus auch Motorradtaxis, haben Reisende in die Online-Foren geschrieben. Ich bin anscheinend auf dem Weg in meine eigene, einsame Hölle. In meinen tränenden Augen zeichnen sich eine Schranke und ein Häuschen ab, auf das ich zulaufe.


Ein Polizist kommt auf mich zu. Er spricht kein Englisch, ich keine Sprache, die er spricht. Ich strecke meine Handfläche nach oben aus, krümme und strecke meine Finger so, als würde ich bei einer Scharade den Begriff «Gasherd» pantomimisch darstellen. Wir verstehen uns. Ich sage «Taxi», er nickt, bittet mich ums Eck, abseits der Kamera, wo ich rauchen kann, und geht hinein zu seinem Kollegen. Nach wenigen Minuten kommt er zurück und schreibt «20 $» in den Schnee. Ich streiche es durch und schreibe «10 $». Er korrigiert mein Angebot, wir einigen uns auf 15 Dollar und fahren mit dem Polizeiwagen los.

«Papa» hat eine Gesundheitsoffensive gestartet. Rauchen ist auf der Strasse verboten und Zigaretten für einen Teil der Bevölkerung beinahe unbezahlbar geworden – sie sind in Turkmenistan ein Luxusgut. Ich habe zum Glück acht Schachteln der Mini-Zigaretten Bahman aus Iran mitgebracht. Sie öffnen in Turkmenistan Türen. Qualmend und in bester Ausflugslaune fährt der Polizist mit seinem Auto über Wüstenwege, die ich nicht sehe. Hinter dem letzten Hügel reihen sich ein paar Jurten aneinander. Im Sommer kann man angeblich dort übernachten. Jetzt bin ich der einzige Gast. Der Polizist bleibt im Auto sitzen und raucht. Ich gehe zum Abgrund und blicke hinunter. Flammen züngeln im Trichter auf, im Abstand, als wäre die Hölle nicht ein grosser Scheiterhaufen, sondern viele. Mehr Grill als Inferno. Meine Augen tränen vor Kälte. Ich laufe den nächstgelegenen Hügel hoch, um den Krater klarer mit der Kamera einzufangen, als ich ihn sehen kann. Ich gehe wieder abwärts, verfluche meine fingerlosen Handschuhe und stelle mich ein letztes Mal ans Tor zur Hölle. Gas und Rauch benebeln mir die Sinne.

Erst als ich zurück am Polizeiposten mitten in der Wüste aus dem Auto steige, stelle ich fest, dass ich gestrandet bin. Wer soll mich von hier wieder wegbringen, vom Eingang der Hölle? Der Polizist scheint mittlerweile meine Gedanken lesen zu können. Ich sage «Daschogus», er macht eine beruhigende Geste: Er senkt seine Handfläche nach unten und hebt sie gemächlich wieder. Er holt seine Kelle hervor und stoppt ein Auto nach dem anderen. Zwei sind voll, der dritte Fahrer bittet mich auf die Rückbank. Er fährt Richtung Norden, an die usbekische Grenze. Vorbei an den Kamelen im Schnee.

Der Bericht «Derweze» von Bastian Sünkel stammt aus dem Magazin REPORTAGEN.

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