Zurück
Erich Gysling in Jordanien

Jordanien - leicht verständlich und hoch kompliziert

Ein Bericht von Erich Gysling

Als ich mit einer „Background Gruppe“ im November die x-te-Jordanien-Tour antrat, dachte ich: ach, wie einfach ist es doch, in dieses unkomplizierte, touristisch so gut erschlossene Land zu reisen. Ich kenne ja jedes Hotel, kenne den Reiseleiter seit Jahren, kenne jede Stätte, fast „jeden Stein“ , freue mich auch auf jede Etappe, von Amman über das antike Jerash, das grossartige Petra, Wadi Rum und Aqaba. Aber ich stellte, während der Reise, einmal mehr fest: Dieses scheinbar einfache Land ist letzten Endes ein Rätsel. Ein positives Rätsel, sei vorweg erwähnt.

Was meine ich damit? 
Jordanien ist stabil. Das heisst konkret: was man geplant hat, kann man durchführen. Aber eigentlich ist das, bezogen auf den Nahen Osten, schon einigermassen rätselhaft. Wie ist es Jordanien gelungen, fast immun zu bleiben gegenüber den Verwerfungen des so genannten Arabischen Frühlings (der dann bald zum „Arabischen Winter“ wurde)? Das benachbarte Syrien versank im blutigen inneren Krieg; Ägypten fiel durch das Sisi-Regime zurück in düsterste Autokratie; Irak, östlicher Nachbar, wurde nach der US-Invasion von der Tyrannei der IS-Islamisten zersetzt und bleibt weiterhin instabil; das saudische Regime hält sich dank Willkürherrschaft an der Macht; Libanons Demokratie bleibt fragil, und was Israel in den direkt benachbarten Palästinensergebieten vorhat, bleibt offenkundig dem Gutdünken der israelischen Regierung und dem US-Präsidenten Trump überlassen.

Die Monarchie, so wird oft gesagt und geschrieben, habe zur Stabilität Jordaniens beigetragen. Stimmt. Aber es ist nur ein Teil der Wahrheit. Das Wesentlichste ist: die entscheidenden Mächte rundherum sorgten und sorgen weiterhin dafür, dass dieses finanziell / wirtschaftlich eigentlich nicht überlebensfähige Land in Frieden weiter existieren kann.
Wie das? Nachdem Libanon instabil wurde (das begann schon in den siebziger Jahren, durch den mehrjährigen Bürgerkrieg), begannen Milliardärsfamilien wie die Hariris, ihre Gelder nach Amman zu transferieren. Etwas später taten irakische Tycoons dasselbe – und nach dem von den USA gegen Irak losgetretenen Krieg von 2003 nahm diese Tendenz inflationsartig zu. Wieder kamen Milliarden, viele davon wahrscheinlich abgezweigt aus den US-amerikanischen Hilfsgeldern für den Wiederaufbau des zerbombten Landes. Und noch mehr Milliarden flossen aus Saudi-Arabien, diesmal aufgrund anderer Überlegungen: Wohlhabende Saudis begannen, Gelder in Immobilien und Infrastruktur-Projekte besonders in und rund um Aqaba anzulegen, der klimatisch angenehmen Stadt am Roten Meer. Und parallel dazu gelangte die Regierung Saudiarabiens zur Schlussfolgerung, man müsse Jordanien aus politischen wie aus wirtschaftlichen Gründen stabil halten, als „Friedensfestung“ im Nahen Osten. 
Dass die Kosten für die Stabilität des Landes mit seinen gut zehn Millionen Menschen ständig steigen, nimmt nicht nur das Regime in Riad in Kauf – auch die USA zahlen ja jährlich mehr als eine Milliarde, um den (allerdings eiskalten) Frieden zwischen Jordanien und Israel am Schein-Leben zu erhalten. Im Ausland arbeitende Jordanier überweisen weitere 3,7 Milliarden pro Jahr, und auch aus Europa fliessen Gelder, allerdings in bescheidenerem Rahmen und besser zielgerichtet. Deutschland steht an erster Stelle, mit zahlreichen Projekten besonders im Bereich der Schulbildung. 

Nur fragt man sich, ob dieses ganze System nicht doch irgendwann in echte Schieflage geraten könnte – dann nämlich, wenn dem Staat die ständig steigenden Renten, die sozialen Kosten insgesamt doch noch wirklich „über den Kopf“ steigen. Signale dafür gibt es zuhauf. Im Herbst 2019 forderten die Lehrerinnen und Lehrer massive Gehaltserhöhungen – der König befahl seinem Premier schliesslich, einzuwilligen. Resultat: hunderte Millionen Dollar mehr an Ausgaben. Aber das ist wohl nur ein Detail, viel mehr zu buche schlägt die Regelung der Arbeitsjahre von Beamten, Polizisten etc. Viele können sich schon im Alter vor 50 pensionieren lassen, und unzählige Familien beziehen ja kollektiv auch sowohl Rente wie Krankenversicherung nur weil ein Sohn oder eine Tochter im öffentlichen Apparat eine Anstellung hat. Mit anderen Worten: die Lasten auf den Staatshaushalt steigen schon aufgrund der Demografie – und können nur durch gewaltige finanzielle Zuströme aus dem Ausland aufgefangen werden.
All das kann der / die Reisende irgend wann einmal erfahren oder recherchieren – man weiss ja, dass Vieles, überall, unsichtbar bleibt. Und plötzlich taucht die Frage auf: wie kommt es, dass wir vom problematisch vielleicht Wichtigsten, von den Syrien-Flüchtlingen, nichts mitbekommen?
Ja, so ist es: dieses schwerwiegendste Problem ist (fast) unsichtbar. Wie das? Jordanien hat selbst gut zehn Millionen Bewohner – und beherbergt mehr als eine Million Flüchtlinge aus Syrien. Nicht mehr als 90 000 sollen in den letzten Monaten in ihr Land zurück gekehrt sein. Aber wo sind denn die Andern? Gut 100 000 in Lagern, die Übrigen nach aussen hin nicht sichtbar eingebettet in die jordanische Gesellschaft, wird gesagt. Das hängt zusammen mit familiären Traditionen: es gibt, zurück reichend über Jahrzehnte, relativ viele Ehen zwischen Jordaniern und Syrerinnen oder umgekehrt, und als der Konflikt in Syrien im Jahr 2011 ausbrach, flüchteten Viele aus Syrien zu ihren näheren oder entfernteren Verwandten ins südliche Nachbarland. Der Wohnraum für die betroffenen Familien in Amman, in Zerqa, in allen Städten, er wurde darauf hin enger, oft wohl viel enger. Solidarität ist eines der schönen Gebote in der nahöstlichen Gesellschaft. Und Solidarität bewirkt bis heute, dass die eigentlich für Jordanien unerträgliche Flüchtlingsproblematik nicht zu einem nach aussen hin erkennbaren Problem geworden ist.
Als Reisende/Reisender kann man syrische Tradition sogar in positivem Sinne wahr nehmen. Fahren Sie einmal von Amman südlich bis Petra auf der Autobahn, machen Sie einen oder zwei Zwischenstopps in den dortigen Raststätten. Da handelt es sich jeweils um eine Mischung von Café und Souvenir-Laden. Besuchte man diese Stätten noch vor fünf oder sechs Jahren, sah man, was die Souvenirs betraf: Massenware über Massenware, Vieles möglicherweise aus Fernost importiert. Dann änderte sich etwas – von einem Jahr zum anderen sah man in diesen Allerwelts-Stätten immer mehr schöne Möbel mit Einlege-Arbeit, sehr kunstvoll gemacht. Alles Tradition aus Damaskus, damaszener Arbeiten. Teuer, ja, und im Geschmack wohl nicht dem europäischen entsprechend, aber Alles beruhend auf grosser Handwerks-Tradition und Kunstfertigkeit.

Manche Jordanier sagen, die Flüchtlinge aus Syrien hätten, neben all den durch den Zustrom entstandenen Problemen, auch Positives gebracht. Syrer seien gute, fleissige Arbeiter – im Gegensatz zu vielen Jordaniern, die handwerkliche Tätigkeiten eher scheuten. Und dies, obgleich das Land eine hohe Arbeitslosigkeit besonders bei der jungen Generation (40 Prozent lauten da die Schätzungen) verzeichnet. Die Arbeitslosigkeit anderseits hängt zum Teil, absurderweise, damit zusammen, dass das Bildungsniveau in Jordanien generell hoch ist. Wer einen Abschluss aus einer Hochschule vorweisen kann, hat, auch das ist irgendwie verständlich, keine Lust, mit seinen Händen harte Arbeit zu verrichten. 
All das und viel mehr lernt man bei einer Reise durch Jordanien. Das äusserlich so einfach-angenehme Land besteht aus einer Menge von Rätseln, die sich all Jenen öffnen, die ein wenig unter die Oberfläche schauen möchten. 

Text und Bilder: Erich Gysling