Leistenkrokodil
© Urs Wälterlin

Tourismus als Weg zur Selbstständigkeit

 |  Hintergrund

Der Korrespondent Urs Wälterlin lebt seit 1992 in Australien und berichtet für SRF aus der Region Südpazifik – von Australien bis nach Tahiti. Er wohnt mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen auf einer 130 Hektaren grossen Farm nördlich der Hauptstadt Canberra. Er nimmt Sie mit auf den East-Alligator-Fluss und erzählt, warum der Tourismus in Australien so wichtig ist. 

Das Aluminiumboot tuckert langsam auf dem braungrauen Wasser des East-Alligator-Flusses. Hilton Garnarradj, ein junger Aboriginal mit zerknittertem Hemd und wildem Haar, erzählt. Von seinem Land, von den Geistern seiner Ahnen, die in den Schluchten und Höhlen lebten, hier im tropischen Norden Australiens. Der Fluss ist die Grenze zwischen dem weltbekannten Kakadu-Nationalpark und dem Arnhem Land, einem Gebiet mehr als zweimal so gross wie die Schweiz. Es gehört den Ureinwohnern und darf nur mit deren Bewilligung betreten werden. 

Jeder Baum, jedes Tier habe seine Bedeutung, erklärt Hilton. Und jede Felsformation. «Wenn unsere Ältesten sterben, nehmen wir nach etwa einem Jahr nach ihrem Tod ihre Knochen und malen sie mit roter Ockerfarbe an. Dann verstecken wir sie in den Felsspalten da oben. Dann sind sie wieder zuhause. Bei ihren Vorfahren.»

Hilton Garnarradj spricht mit ruhiger Stimme, fast etwas zu leise eigentlich, schüchtern vielleicht. Eine Gruppe von 20 Jugendlichen hört ihm zu. Seine Stimme hebt sich aber blitzartig, als er sieht, dass einer seiner Fahrgäste einen Arm über die Brüstung hängen lässt. In der anderen Hand hält das Mädchen sein iPhone, gedankenverloren. «Hand ins Boot!», ruft Hilton Garnarradj.

Das Mädchen erschrickt und gehorcht, blitzschnell. «Du brauchst den Arm doch noch, oder?», sagt Hilton und lacht.

Es wäre nicht das erste Mal, dass hier ein Tourist dem einzigen Tier Australiens zum Opfer fällt, das auch den Menschen auf dem Speisezettel hat: das Leistenkrokodil, auch Salzwasserkrokodil genannt. Im East-Alligator wimmelt es von diesen lebenden Dinosauriern. «4‘300 gibt es hier», erzählt Hilton, «bis zu fünf Meter lang». Schon ein zwei Meter langes Krokodil kann problemlos einen Menschen töten.

Trotzdem versuchen immer wieder Tourist*innen beim «Cahill Crossing» durch den Fluss zu schwimmen, oder zu waten, dort, wo man mit dem Allradfahrzeug vom Kakadu Nationalpark ins Arnhem Land fahren kann. Ein Angriff dauere nur ein paar Sekunden, erklärt später Tom Nichols, Krokodilfänger der Nationalparkbehörde. Ein paar Spritzer, ein Schrei vielleicht. Dann Stille. Totenstille.

Wie man in der Wildnis überlebt

Zwischenhalt an einem kleinen Sandstrand. Hier lernen die Teenager, wie man in der Wildnis überlebt. Wie man nach Früchten und Beeren sucht, wie man jagt. «Wir machen das seit 60‘000 Jahren so»,  sagt Hilton. Dann wirft er – mit Hilfe eines Hebelholzes – einen Speer, über hundert Meter weit, zentimetergenau ins Ziel. 

Hilton Garnarradj und seine Kumpel sind das neue Gesicht des australischen Tourismus. Junge indigene Australier, die voller Stolz von ihrer Kultur erzählen, von ihrem Leben und von der einzigartigen Umwelt, in der sie leben. «Für uns ist es eine Gelegenheit, unseren Kindern Wissen weiterzugeben, das wir von unseren Ältesten übernommen haben», erzählt Robert Namarnyilk. 

Der Mann sitzt im Schatten eines grossen Eukalyptusbaumes und schnitzt einen Speer. Als Stammesältester ist er einer der Direktoren der indigenen Tourismusfirma Guluyambi, die unter anderem Bootstouren auf dem East-Alligator-Fluss anbietet. «Unsere Firma ist zwar klein. Aber wir verdienen Geld.» Und sie schafft Arbeitsplätze in einem Gebiete des Landes, wo es sonst kaum welche gibt.

«Die einzige Alternative zum Tourismus wäre das Schnitzen von Speeren und das Malen von traditionellen Bildern», sagt Robert Namarnyilk.

«Tourismus ist nicht nur eine wichtige Quelle von Einkommen.»

Australien ist ein Traumland für viele reisefreudige Menschen. Die Landschaft, die Natur locken, und die Geheimnisse der ältesten überlebenden Kultur der Welt. Für die Aborigines ist Tourismus nicht nur eine wichtige Quelle von Einkommen geworden. Das Interesse der Besucher*innen ermöglicht auch die Weitergabe von Wissen und Erfahrung von einer Generation zur andern. 

Tourismus ist heute eine der wichtigsten Exportindustrien Australiens, nach Eisenerz, Kohle und der Universitätsausbildung für ausländische Bezahlstudenten. Seit gut zwanzig Jahren gewinnt das Land als Reiseziel stetig an Beliebtheit. 2018 kamen zum ersten Mal über neun Millionen Besucher nach Downunder. Sie pumpten über 42 Milliarden australische Dollar (26 Milliarden Franken) in die Wirtschaft. Schweizer*innen sind mit über 50‘000 Besuchern pro Jahr begeisterte Australien-Liebhaber*innen. In Umfragen geben sie den Kontinent regelmässig als Traumdestination an.

Die australische Regierung erkennt die Bedeutung des indigenen Tourismus nur langsam. Offizielle Zahlen über die wirtschaftliche Relevanz des Sektors für die Tourismusindustrie gibt es aber nicht. Dabei ist Aboriginal-Kultur weltweit einzigartig und «ein wichtiger Unterschied zu anderen Ländern» im heftig umkämpften globalen Tourismusmarkt, so die australische Investitionsbehörde.

Der Anteil der Besucher*innen aus dem Ausland, die ein sogenanntes «indigenes Erlebnis» suchen, ist parallel zu den Gesamtbesucherzahlen am Steigen. Liessen sich 2013 noch 679‘000 Australien-Tourist*innen von einer indigenen Erfahrung beeindrucken, waren es 2018 bereits 963‘000. Heute sind primär asiatische Tourist*innen interessiert an der Kultur der ersten Australier.

Auch die Vereinigten Staaten und die Länder Skandinaviens sind laut offizieller Statistik wichtige Quellmärkte. 

Zurück zur Anlegestelle. Begeistert erzählen die Schülerinnen und Schüler am Ufer den wartenden Lehrern vom Erlebten. «Es war so cool», sagt ein junger Mann und schüttelt Hilton dankbar die Hand. Der Beobachter wird den Eindruck nicht los, dass dieser schüchterne Aboriginal in seinem zerknitterten Hemd, in dieser letzten Stunde mehr zum Verständnis zwischen schwarzen und nicht-indigenen Australiern beigetragen hat, als so mancher Politiker in einem Jahrzehnt.

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