Wer an Japan denkt, denkt an Kirschblüten. Und an Kimono. Doch Japan ist viel mehr. Es ist ein Land voller Gegensätze. Wer sich auf eine Reise durch das Inselreich im fernen Osten macht, wird hin- und hergeworfen zwischen Faszination und Irritation. Unser Experte und Fotojournalist Patrick Rohr nimmt Sie mit auf eine Bilderreise in das Land, das ihn nicht mehr loslässt.
Japan – Abseits von Kirschblüten und Kimono
Eigentlich wollte ich nie nach Japan. Zu fremd, zu unergründbar schienen mir das Land und seine Leute. 2016 liess ich mich trotzdem zu einer privaten Reise überreden. Und seither ist es um mich geschehen: Seit eineinhalb Jahren lebe ich sogar zu einem grossen Teil in Tokio.
Wenn ich am Morgen aufstehe, sehe ich die Skyline von Shinjuku, einem der Zentren der Hauptstadt. Wobei «Stadt» wohl nicht der richtige Begriff ist für Tokio. Knapp 40 Millionen Menschen leben in der weltgrössten Metropolitanregion, die sich aus mehreren Städten zusammensetzt.
Und obwohl es, vor allem in den Stosszeiten, in Tokio sehr eng werden kann, hat man nie das Gefühl von «Dichtestress», wie ihn offenbar einige Menschen in der Vor-Corona-Zeit in der Schweiz erlebt haben, wo ein Viertel der Bevölkerung von Tokio auf einer viermal so grossen Fläche wohnt.
Dass in Tokio kaum je das Gefühl von Enge aufkommt, hat einerseits sicher mit der Stadtstruktur zu tun: Geschäftige Zentren wie Shinjuku, Shibuya oder Ginza wechseln sich ab mit beinahe dörflichen Wohnvierteln.
Andererseits hat es aber auch damit zu tun, dass die Menschen in Japan sich einen natürlichen Raum geben und vor allem sehr respektvoll miteinander umgehen. Bei der Einfahrt des Zuges wird nicht gedrängelt und gestossen, man ist höflich und lässt sich den Vortritt. Ist ein Zug voll, wartet man auf den nächsten, der in wenigen Minuten da ist.
Dieser rücksichtsvolle Umgang miteinander hat auch damit zu tun, dass man bei unflätigem Verhalten «sein Gesicht verlieren» würde, was in Japan – wie in anderen asiatischen Kulturen – eine grosse Schande bedeutet. Doch mit dem Gesichtsverlust ist das so eine Sache: Japanern ist vieles nicht peinlich, was Schweizern die Schamesröte ins Gesicht steigen liesse. Oder könnten Sie sich vorstellen, zum Mittagessen in ein Lokal zu gehen, in dem die Serviceangestellte Katzenöhrchen trägt und dem Gast Mäuseöhrchen aufsetzt?
Offenbar gehört der keusche Besuch in einem Maid-Café, wie es sie im Tokioter Vergnügungsviertel Akihabara zahlreich gibt, zu den kleinen Fluchten der sehr oft sehr gestressten Büroangestellten, der salary men und der office ladies, wie man sie in Japan nennt.
70 bis 80 Arbeitsstunden in der Woche sind in Japan absolut üblich. Viele Angestellte übernachten unter der Woche am Bürotisch oder in einer billigen Herberge in Büronähe, um möglichst lange arbeiten zu können. Burn-outs sind sehr verbreitet, und die japanische Sprache kennt mit «karooshi» sogar ein Wort für «Tod durch Überarbeitung». Wie effizient die Heerscharen von Büroangestellten in dieser Zeit tatsächlich arbeiten, ist fraglich – die japanische Wirtschaft war schon vor Corona am Schrumpfen, das Land kämpft hart um seinen Platz als drittgrösste Volkswirtschaft hinter den USA und China. Seine Nachbarn Taiwan und Südkorea sitzen ihm im Nacken. Aber die japanische Kultur lässt es nicht zu, dass einfache Angestellte am Abend zeitig nach Hause gehen: Niemand möchte als faul gelten, und vor allem verlässt man nicht vor dem Chef das Büro – und der möchte sich natürlich vor seinen Untergebenen auch keine Blösse geben. Eine unglückselige Spirale.
Umso wichtiger ist den Büroangestellten der «nomikai», der Umtrunk nach Arbeitsschluss am Freitagabend. Da wird in den Tokioter Izakayas – eine Art japanische Tapas-Bars – zünftig gefeiert.
Am Montag danach wird im Büro aber nicht darüber gesprochen. Und wenn man sich während des «nomikai» geduzt hat, begrüsst man sich am Arbeitsplatz wieder förmlich mit Sie. Es soll ja niemand sein Gesicht verlieren.
Wem Tokio zu laut, zu wild, zu anstrengend ist, der flüchtet am besten aufs Land. Schon am Stadtrand taucht man in eine ganz andere Welt ein: Die Natur ist üppig, und in den Wäldern im Zentrum des Landes verstecken sich Tempel und Schreine.
Etwas ausserhalb von Kyoto, in Kameoka, war ich einmal bei Rooshi (Meister) Genshoo Hoozumi zu Gast. Er ist einer der wenigen buddhistischen Mönche in Japan, der in seinem Tempel auch Nicht-Buddhisten aus dem Westen empfängt.
Bei Meister Hoozumi habe ich eine Schnellbleiche in Zen erhalten. Ich lernte, dass nichts einen Anfang und nichts ein Ende hat, dass alles immer im Fluss ist. Und dass man deshalb auch nie fragen soll, wann eine Arbeit zu Ende ist, denn sie ist es nie, da ja nichts ein Ende hat. Was in der Theorie für mich noch ziemlich abstrakt klang, wirkte sich in der Praxis schon nach kurzer Zeit in einer grossen Ruhe und Entspannung aus. Wie wohltuend, wenn man aus Tokio kommt.
Meister Hoozumis Tempel ist, wie alle buddhistischen Tempel, mit vielen Figuren geschmückt. In Higashiyoshino, einem kleinen Dorf etwas ausserhalb der alten Kaiserstadt Nara,traf ich Atsuhito Yasumoto, einen Bildhauer, der sich auf buddhistische Skulpturen spezialisiert hat.
Eigentlich hätte er die Plastikfabrik seines Vaters übernehmen sollen, doch Plastiken sagten ihm schon in jungen Jahren mehr zu als Plastik, und so ging er zwölf Jahre bei verschiedenen Meistern in die Lehre, um seine Kunst zu erlernen.
Dass ein Sohn nicht tut, was sein Vater für ihn vorsieht, ist in Japan nicht üblich. Yukinobu Takanashi kann ein Lied davon singen.
Er ist Fischerverkäufer im Geschäft seines Vaters. Der hat es von seinem Vater übernommen, und der Plan ist, dass Yuki, wie ihn seine Freunde nennen, in ein paar Jahren das Geschäft übernimmt. Eigentlich würde er aber viel lieber als Fotomodell arbeiten, was er in seiner Freizeit bereits gelegentlich tut. Vor drei Jahren hat er auch an der Wahl zum «Mister Japan» teilgenommen, aber in der zweiten Runde ist er ausgeschieden. Er habe, sagt er, wohl keine Wahl, er werde das Geschäft übernehmen.
Auszubrechen aus der von Normen und Regeln geprägten japanischen Gesellschaft ist sehr schwierig. Wenn man es, wie Sanroku, tut, bezahlt man einen hohen Preis dafür.
Mit knapp 20 hat er sich sein erstes Tattoo stechen lassen – seither ist sein Platz am Rand der Gesellschaft: An Familienfeste oder Hochzeiten wird er als Tätowierter nicht mehr eingeladen. Tattoos werden in Japan mit der Yakuza, der japanischen Mafia, verbunden – in dieser Organisation zeigt man über Tattoos seine Zugehörigkeit. Dass man sich ein Tattoo einfach so als Schmuck stechen lässt, wie Sanroku, kann man in Japan nicht verstehen. Das bekommen übrigens immer wieder auch Touristen aus dem Westen zu spüren, die wegen ihrer Tattoos zum Beispiel nicht in die öffentlichen Bäder gelassen werden.
Sie fragen sich jetzt vielleicht, warum ich vor allem von Männern erzähle, die vom Ausbruch träumen oder ihn sogar wagen. Das hat einen einfachen Grund: In der japanischen Gesellschaft herrscht nach wie vor ein sehr traditionelles Rollenverständnis von Mann und Frau vor. Für die Frau gibt es streng genommen nur eine Bestimmung: Mutter und Hausfrau zu sein. Vor allem in den Städten gibt es immer mehr junge Frauen, die studieren und eine Berufskarriere machen, aber sie sind nach wie vor eine Minderheit. Und vor allem haben sie wenig Aussichten, einen Mann zu finden. Denn auch junge Männer halten oft an der traditionellen Rollenteilung fest – vor allem ihren Eltern zuliebe.
Was aber natürlich nicht heisst, dass es in Japan keine Frauen gibt, die ihren eigenen Weg gehen und sich über die gesellschaftlichen Konventionen hinwegsetzen. Yooko Okamoto aus Kyoto gehört zu ihnen. Sie ist eine der wenigen weiblichen Kampfkunst-Sensei (Lehrer) in Japan.
In ihrem Doojoo, dem Trainingsraum in Kyoto, bringt sie Schülerinnen und Schülern aus der ganzen Welt die Kampfkunst Aikido bei. Die Lektionen bei Yooko Okamoto beginnen früh – um sechs Uhr morgens. Und bevor Sport getrieben wird, meditieren die Schülerinnen und Schüler erst einmal 45 Minuten im Lotussitz.
Meditation und Spiritualität sind auch für die Performance-Künstlerin Miho Tsujii wichtig. Ich traf sie in Tokio, wo sie sich dafür einsetzt, dass die «Trostfrauen» nicht vergessen werden – ein düsteres Kapitel der japanischen Kriegsgeschichte: Frauen aus Südkorea, China, Indonesien und anderen Staaten wurden zwangsprostituiert, um den japanischen Soldaten zu Diensten zu sein.
Als ich sie fotografiere, hält sie zwei vertrocknete Sonnenblumen in ihren Händen. Sie stehen für ihr Engagement gegen die Atomkraft: Nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima 2011 wurden die Felder im Norden des Landes mit Sonnenblumen bepflanzt, weil diese dem Boden die Radioaktivität entziehen. Miho Tsujii braucht die Sonnenblumen bei ihren Bühnenauftritten, um den Menschen bewusst zu machen, wie abhängig Japan von der Atomkraft ist – trotz der zwei Atombombenabwürfe auf das Land am Ende des Zweiten Weltkriegs.
Apropos Auftritt: Werfen wir zum Schluss noch einen Blick auf die gegensätzliche japanische Bühnenkultur.
Da wäre einmal das Noo-Theater, eine 700 Jahre alte Theaterform, die strengen Regeln folgt. Im Noo-Theater spielen ausschliesslich Männer die etwa 200 festgelegten Rollen, die es gibt. Die Schauspieler tragen Masken, die seit Jahrhunderten ebenfalls nach strengen Regeln geschnitzt werden. Im Noo-Theater wird nicht gesprochen, die Figuren bewegen sich nach einer festgelegten Choreografie zu einer sehr eigentümlichen Musik und Geräuschen. Im Noo-Theater der Familie Kongoo in Kyoto, wo das Bild oben entstand, übernimmt seit 27 Generationen der erstgeborene Sohn die Leitung des Theaters – wie in einem Königs- oder Kaiserhaus.
Was für ein Gegensatz dazu die Kultur der Aidoru, der japanischen «Idols». Tausende junger Menschen, vor allem Mädchen, kämpfen darum, Mitglied einer der unzähligen gecasteten Bands zu werden, die im ganzen Land auf grossen und kleinen Bühnen auftreten. Einmal drin in einer Band, sind die jungen Künstlerinnen fast so etwas wie Leibeigene ihrer Managements. Tagsüber üben sie Singen und Tanzen oder werden für Werbefotos von einem Ort zum anderen gebracht, abends stehen sie siebenmal die Woche auf der Bühne. Freie Tage gibt es nicht, einen Lohn erhalten nur die ältesten Mitglieder. Für die jüngeren gibt es Kost und Logis – denn meist wohnen die Mädchen, die sich oft schon mit neun oder zehn einer Gruppe anschliessen, in einem Haus des Managements.
Das ist Japan, das Land der extremen Gegensätze: lieblich und brutal, leise und laut, traditionell und modern. Es gäbe noch viele solche Geschichten zu erzählen. Vielleicht begleiten Sie Patrick Rohr auf einer seiner Reisen durch Japan.
Die meisten Bilder stammen aus Patrick Rohrs Buch Japan – Abseits von Kirschblüten und Kimono.