Erasmusbrücke. Dahinter thront die "vertikale Stadt", drei Türme von je 150 Metern Höhe. © Robert B. Fishman / Globetrotter-Magazin

Rotterdam – Wolkenkratzer statt Windmühlen

von Robert B. Fishman

Hollands Schmuddelkind hat sich herausgeputzt. Wo einst Seeleute in Hafenspelunken ihren Lohn versoffen, wachsen heute bis zu 50 Stockwerke hohe Wohntürme in den Himmel.
Um Platz für immer grössere Containerschiffe zu gewinnen, zieht Europas grösster Hafen die Neue Maas hinunter Richtung Meer. Auf den frei werdenden Grundstücken toben sich berühmte Architekten und kreative Unternehmensgründer aus.

„Das Schöne an dieser Stadt ist, dass sie nicht so holländisch ist“, scherzt Simone. Statt Windmühlen sehe ich Wolkenkratzer, statt eine Altstadt mit Grachten entdecke ich Würfelbauten aus der Nachkriegszeit, der nagelneue Hauptbahnhof zeigt eine matt grau schimmernde Dreiecksfassade. Simone habe ich im Netz gefunden. Sie betreibt den Blog «nach Holland». On- und offline gibt sie Hollandreisenden Tipps und berät Deutsche, die in die Niederlande ziehen wollen. Wir treffen uns im Rotown, dem die neumodische Abkürzung für Rotterdam den Namen gab. Die Kneipe – viel dunkles Holz, selbstgebrautes Bier, junge Leute – liegt einen Steinwurf vom ehemaligen Drogenstrich, der heute beliebten Ausgehmeile Witte de Withstraat mit ihren Restaurants und Bars, entfernt. Architektin Simone und ihr Freund sind vor 16 Jahren wegen des Jobs hierhergezogen.

Damals hatte der Wandel begonnen. Das raue, hässliche Entlein im Schatten Amsterdams, mit dem die Rotterdamer ihre Stadt in einer Mischung aus Neid und Abscheu ständig vergleichen, fing an, sich schön zu machen. Der Bauboom in den 90er- und 2000erJahren hat die Stadt verändert. Die anrüchige Hafenstadt mit ihren sozialen Problemen und hoher Kriminalität hat sich in ein Labor der Postmoderne verwandelt: Hochhäuser, neue Stadtviertel und unzählige kreative Ideen für das Wohnen der Zukunft. Den Hafen hat man vom Stadtzentrum weg in Richtung Meer verlegt. Der Flussarm wird dort tiefer und breiter, sodass ihn auch die grossen Schiffe befahren können.

Bauklötze staunen.
Die Stadt brauchte Architekten und Ingenieure, die an den kühnen Träumen der Rotterdamer Planer mitbauen wollten: Sie entwarfen zum Beispiel die Erasmusbrücke, die seit 1996 die Neue Maas überspannt. Ich radle über den «Schwanenhals», wie das geschwungene Bau-werk seiner eleganten Form wegen genannt wird. Im Abendlicht scheint die Brücke über dem Fluss zu schweben. Drüben angekommen, lege ich den Kopf in den Nacken. Die glatten Fassaden der Hochhäuser verschwimmen in den tief hängenden Wolken. Mittendrin steht der landesweit höchste Wohnturm – die 44 Etagen hohe «vertikale Stadt» namens «De Rotterdam» von Rem Koolhaas. Nach so viel Sport meldet sich der Hunger. Weitere Pläne warten seit der Lehmann Pleite 2007/08 auf Geldgeber. Zum Beispiel diejenigen für die Aufwertung der Halbinsel Katendrecht. Bis zum Zweiten Weltkrieg Europas grösste Chinatown, zuletzt Matrosenviertel und Rotlichtbezirk, ist sie heute ein beliebtes Wohngebiet. Eine Fussgängerbrücke verbindet den hippen und futuristischen Stadtteil Kop van Zuid mit Katendrecht. Sie mündet auf einen ehemaligen Hafenkai, an dem Rotterdamer Kreative alten Fabrikhallen neues Leben einhauchen. Ich folge den farbigen Lichtern, die
aus einer der Hallen scheinen. Drinnen geht es lebendig zu wie auf einem Markt. An einem Stand backen junge Leute frisches Brot, an einem anderen holt jemand Pizza aus dem Ofen. Mittendrin verkauft hinter bunten Gewürzhaufen ein Marokkaner mit einem roten Fes auf dem Kopf Spezialitäten aus seiner Heimat, kreiert aus Rotterdamer Zutaten.

»Rotterdam ist roh, niemals fertig, immer in Bewegung und in ständigem Umbruch.«

Erfinderisches Volk. 
«Rotterdam ist roh, niemals fertig, immer in Bewegung und in ständigem Umbruch», erzählt Paul, der nebenan sein Restaurant Posse eröffnet hat. Er sitzt im karierten Hemd mit seinem Laptop an einem grossen unbearbeiteten Holztisch am Rande einer Fabrikhalle.

An der Wand hängt ein restauriertes schwarzes Fahrrad. Im Regal stehen alte Keksdosen. Metalllampen spenden gedämpftes Licht. Der bärtige Inhaber mit dem stylishen Kurzhaarschnitt ist Fotograf. Er sammelt klassische Velos, schraubt an einem uralten Minibus, der bald wieder fahren soll, kauft europaweit Fotokunst und serviert Leckereien aus frischen einheimischen Zutaten. Sein Opa war Hafenarbeiter. «Er schleppte für zehn Cent Tageslohn 25 Kilo schwere Säcke auf die Schiffe. Zum Überleben brauchte er Erfindergeist.» Das, meint Paul, sei auch heute noch typisch Rotterdam. «Wir haben unglaublich viele kreative Leute hier.» Später komme ich auf meiner Radtour an einem Flachbau vorbei. Im Garten summt ein silbrig glänzender, rund sieben Meter hoher Turm vor sich hin. Der Smog Free Tower gehört dem Künstler und Designer Daan Roosegaarde, der hier sein Studio eingerichtet hat. Ein junger Mann namens Sebastian öffnet mir die Tür. Nein, der Chef sei nicht da, aber etwas könne auch er mir erzählen: «Der Turm saugt durch das grosse Loch oben Umge-bungsluft an und reinigt sie mittels elektrischer Ladung. Aus den Lamellen auf den Seiten bläst er die saubere Luft in die Umgebung.» 70 Prozent des Feinstaubs und anderen Dreck filtere die Maschine heraus. Die schwarzen Rückstände pressen die Mitarbeiter zu Klumpen und verarbeiten sie zu Schmuck. Ein Ring mit einem solchen «Dreckstück» als Stein kostet
250 Euro. Damit kaufe man 1000 Kubikmeter saubere Luft. «Im Moment», sagt Sebastian, «können wir nicht liefern. Wir müssen warten, bis sich wieder genug Stoff in den Filtern angesammelt hat.» Roosegaarde will den Smog Free Tower an Städte verkaufen, die unter Luftverschmutzung leiden. Mit Peking verhandle man bereits.


Dieser Text ist ein Ausschnitt aus der Reportage „Stadtentdeckung Rotterdam – Wolkenkrat-zer statt Windmühlen“ und erschien erstmals im Frühling 2016 im Globetrotter-Magazin. 

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