Der Glöckner Kyrill im Einsatz © Andrea Schild und Berno Z'Brun

Im Rhythmus Russlands

von Andrea Schild und Berno Z'Brun

In einer Stadt im Goldenen Ring schlägt seit Kurzem ein mehr oder minder katholischer Walliser die orthodoxen Glocken im Rhythmus Russlands.
Drei lang hallende, andächtige Schläge auf die grosse Verkündigungsglocke ehren die Dreifaltigkeit. Es folgen zwölf kürzere Schläge für die Apostel und Monate. Daraufhin darf der Schweizer Auswanderer seiner Improvisationskunst freien Lauf lassen und in windiger Höhe mit Einsatz von Händen und Füssen die Glocken zum Vibrieren bringen.  

Berno Z`Brun lebt seit 10 Jahren in Russland und hat soeben die Ausbildung zum diplomierten Glöckner absolviert. Zwischen goldenen Ikonen und den in Russland omnipräsenten Zimmerpflanzen geht es im hintersten Winkel der Kirche mit Theorie los. Eine anspruchsvolle Sache, wenn man Russisch nicht mit der Muttermilch aufgesogen hat: Metallanteile und Formeln zur Berechnung der Glockendicke, Ausflüge in die Geschichte zur einzigartigen Art des Glockenläutens aus Rostow Weliki im Goldenen Ring und schliesslich erfährt man, warum die 200 Tonnen schwere Zarenglocke im Kreml zersprang, noch bevor sie den Glockenturm erreichte. 

Nach 2 Wochen geht es endlich ans Übungsgestänge im Kirchenschiff. Um Hände und Ohren langsam an die Schwingungen zu gewöhnen, übt man zuerst einfache Läutarten: Langsame aufeinander folgende Schläge von der grössten zur kleinsten Glocke. So klingt es jeweils in der Nacht vom 19. Januar, wenn die Mutigen unter den Gläubigen drei Mal hintereinander ins Eisloch tauchen. Schrittweise üben die Glöcknerlehrlinge dann weiter, bis sie frei improvisieren können, um am festlichen Osterfest die Freude über die Auferstehung laut und lebendig auszudrücken. Nach zwei Monaten tritt man vor die Jury. Wer Fragen zur Theorie richtig beantwortet und passabel vorspielt, kann sich diplomierter Glöckner nennen und bei einer Kirche anheuern. 

Über 70 Jahre lang  waren die Glocken verstummt und die Religion wurde laut offizieller Ideologie als „Opium fürs Volk“ verdrängt. Nun soll der orthodoxe Glaube wieder zu einem Stützpfeiler der Gesellschaft werden. Nachdem in den heiligen Hallen Traktore und Mähdrescher untergebracht wurden, erstrahlen die Innenräume wieder in neuem Glanz. Die glitzernden Zwiebeltürmchen und Kreuze mit Querbalken werden nach und nach erneut auf die Dächer gesetzt. Oben gibt der Glöckner und unten wieder das Väterchen den Takt an. 

Um zu verstehen, wie Russland tickt, ist der Glockenturm kein schlechter Ausgangspunkt. Obschon die allerwenigsten Russen und Russinnen regelmässige Kirchgänger sind, bezeichnet sich eine Mehrheit als orthodox. Doch die Zugehörigkeit zur christlichen Ostkirche ist untrennbar verbunden mit der Nationalität. Wer russisch ist, ist im Selbstverständnis einfach orthodox. Ungefähr so handhabt es auch Bernos Glöcknerkollege Kyrill. Er läutet täglich den Gottesdienst ein und spielt so virtuos, dass man in ihm den freudigen Frommen vermutet. Doch den jungen Russen fasziniert vor allem der Glockenklang und die unerschöpflichen Möglichkeiten der Musik, die sich ihm auf dem Turm bieten. 
 

»Wie die russische Antwort auf Elvis Presley beugt und streckt er seine Knie und erzeugt so einen eigenen Beat.«

„Meine Kindheit fiel auf die berüchtigten 90er Jahre. Wir hatten in Russland zwar nach dem Zerfall des Sozialismus plötzlich viele Freiheiten und irgendetwas namens „Demokratie“, aber de facto herrschte unter Jelzin Chaos und Armut. Mangels alternativer Spielmöglichkeiten kletterte ich noch im Kindesalter zum ersten Mal auf den Turm einer wieder eröffneten Kirche. Seither bin ich eigentlich nicht mehr heruntergekommen“, Kyrill lacht. Im offenen Kirchturm, auf der Höhe der Zwiebeltürmchen macht er sich bereit für seinen morgendlichen Einsatz in der Mariä-Entschlafens-Kirche. Vor dem Beginn der Messe beugt er den Kopf und schliesst die Augen, wie ein Pianist vor dem ersten Anschlag.

Auch sein Glockenspiel beginnt jeweils mit den drei bedächtigen Schlägen auf die grösste Glocke: im Namen des Vaters – des Sohnes – und des Heiligen Geistes. Die anschliessende Kombination aus Tradition und Improvisation ist an Virtuosität kaum zu überbieten. Der Maestro steht im Zentrum eines Spinnennetzes von Seilen, die mit 25 Glocken direkt oder über Rollen verbunden sind. Vier kleine sind mit einem Strang verbunden und werden mit der rechten Hand zusammen geläutet. Weitere Glocken mittlerer Grösse sind mit einem gespannten Seil an einem Pfosten befestigt und werden durch Drücken auf ebendieses angeschlagen. Zwei grosse Glocken werden durch die Fusspedale zum Klingen gebracht. Ausserdem hat Kyrill auch noch seine Knie mit einer Konstruktion aus Gestängen und Seilen mit zwei Glocken verbunden. Wie die russische Antwort auf Elvis Presley beugt und streckt er seine Knie und erzeugt so seinen eigenen Beat. Er lässt Elemente aus Jazz und Klassik in sein Spiel einfliessen, variiert höchst präzis Rhythmen und Tempi.  Ein Glöckner mit Leib und Seele! Oder besser Perkussionist, Improvisationskünstler, Rocker, Freejazzer?
Sein Zugang zum Glockenspiel ist auf jeden Fall ziemlich unorthodox. „In der Musik gibt es keine Grenzen“, sagt er mit einer grossen Zufriedenheit, nachdem die letzten Glockenklänge über die Stadt hinaus zu den Birkenwäldern getragen werden. 

 

 


Andrea Schild


Berno Z'Brun