Landwirtschaftliche Fläche in Nebraska

Flussgeschichten - Missouri

von Marzio G. Mian

In Dakota City nahm ich die Strasse Richtung Industriegebiet, und da roch ich es schon, einen rostigen, süsslichen Geruch. Als ich dann am Empfang von Tyson stand, dem grössten Schlachthof der Welt, stündlich 400 geschlachtete und zerlegte Rinder, täglich 18 Millionen Fleischportionen, kam es mir vor, als würde mein Gehirn vom Blutgeruch geflutet. Alles schien in Rot getaucht. Dabei war es hier so strahlend weiss wie in einer Klinik.

Es war schwierig gewesen, eine Besuchserlaubnis für das Fort Knox der Steaks zu bekommen, aber was man mir nun zeigte, reichte, um meinen Speiseplan umzukrempeln. Auf meiner restlichen Reise entlang des Missouri blieb mir nichts anderes übrig, als frittierten Wels zu essen. Die Rinder wurden erst betäubt und dann in Sekundenschnelle mit einem Stich in die Halsschlagader getötet. Ihr Wehklagen war furchtbar, ihr Blut strömte durch die Bodenrinnen, ungestüm und sprudelnd wie schlammiges Wasser bei einem Sommergewitter. Anders als in Dschungel, dem Enthüllungsroman von Upton Sinclair aus dem Jahr 1905, wo mit Kot verschmutzte Eingeweide und vergiftete Mäusekadaver in den Würsten landeten, war die Hygiene bei Tyson tadellos.

Diese Ecke von Nebraska, an der Grenze zu Iowa, hat sich in nur wenigen Jahren ins Schlachthaus der Welt verwandelt. Fast die Hälfte des in den USA verkauften Fleisches wird am Missouri verarbeitet, auf einer Fläche von gerade einmal vierzig Quadratkilometern: Rinder in Dakota City, Hühner in Dakota Dunes und Schweine in Sioux City. Jeder US-Bürger verzehrt pro Jahr durchschnittlich 125 Kilo Fleisch, bei den Europäern sind es 70 Kilo.

Nebraska, die Kornkammer Amerikas. Mais, Soja, Soja und Mais. Ein Teil ist für Biodiesel und China bestimmt, der Rest für die Mägen der Angusrinder. Die Farmen, wo sie gemästet werden, heissen feedlot, nach 145 Tagen wiegen die Tiere fast 800 Kilo. In dem Bundesstaat leben 6,5 Millionen Rinder und nur 2 Millionen Menschen. Stanton County rühmt sich der grössten Rinderdichte pro Quadratkilometer auf der ganzen Welt. «Wir sind Amerika!», begeisterte sich Josh Alexander, der junge Inhaber eines der wenigen Familienbetriebe. Von hier gehen jährlich 12‘500 Tiere in den Schlachthof in Dakota City. «Wir bringen das Essen auf den Tisch der Amerikaner, aber in den Städten hassen sie uns, als wären wir die Pest oder feindliches Ausland.»

Das hier war «Trump Valley», wie es leibt und lebt, die ländliche, ultrakonservative Region der Great Plains. Auf meiner 500 Kilometer langen Reise entlang des Missouri, von St. Louis bis zu den Rocky Mountains in Montana, folgte ich den Spuren der Expedition, die Thomas Jefferson 1804 losgeschickt hatte – jener Expedition, die den Mythos des Wilden Westens und auch des heutigen Amerikas begründete. Die beiden Offiziere Meriwether Lewis und William Clark waren mit einem 33 Mann starken «Kommando» den Fluss hinaufgefahren. Auf ihrer Suche nach der Nordwestpassage zum Pazifik knüpften sie Handelsbeziehungen mit den «Indianer»-Völkern, kartierten Land und Ressourcen und bereiteten so der amerikanischen Expansion den Weg: Die damals noch jungen Vereinigten Staaten konnten in nur wenigen Jahren die Fläche ihres Territoriums verdoppeln; ein Jahrhundert später sollten sie die Welt beherrschen und zum Mond fliegen.

Wenn der Bürgerkrieg die amerikanische Ilias war, war das Unterfangen von Lewis und Clark die Odyssee. Als ich auf ihren Spuren das «wirkliche Amerika» durchquerte, kam es mir vor, als würde ich, der Europäer, die grosse Reise in umgekehrter Richtung unternehmen, als reiste ich zu den Anfängen der amerikanischen Kultur. Allerdings ist der Missouri vor allem seit dem Wirbelsturm Donald Trump zum Symbol eines anderen, verschlossenen, reaktionären und verstossenen Amerikas geworden: «Nach den Wahlen von 2016 haben die Farmer gedacht, jetzt gehe es endlich um sie», sagte mir Clay Jenkinson, Professor für Humanwissenschaften in Bismarck, North Dakota. «Jetzt sind sie zwar nicht mehr unsichtbar, aber ein Staat für sich.»

Der Abstand zum Amerika der Metropolen und Industrie ist unaufholbar geworden. Die beiden Welten reden nicht mehr miteinander oder hassen sich sogar. Jefferson wurde definitiv widerlegt. Er glaubte, die Voraussetzung für den amerikanischen Traum und die Demokratie in den USA sei der Aufbau einer bäuerlichen Gesellschaft: die Tugend der Farmer gegen die Privilegien der städtischen Elite aus Handel, Banken und Industrie. «Doch leider haben meine Brüder der Prärie, alles würdevolle Konservative und meistens Nachkommen von skandinavischen Protestanten, jemandem vertraut, dem sie sonst nicht einmal ein Pferd abkaufen würden», so Jenkinson.

In Nebraska verbrachte ich ein paar Tage auf der Farm von Scott Kinkaid, 55 Jahre alt und in vierter Generation Farmer in Hartington. Sein Hof liegt nur wenige Kilometer entfernt von Yankton und dem Calumet Bluff, einem ehrwürdigen Felsvorsprung am Missouri, an dem Lewis und Clark zum ersten Mal Sioux begegneten. An diesem Flussabschnitt spürt man, wie einen Schauder, den Grossen Geist der Prärie. Der Wind verwandelt das hohe Gras in wogende Wellen, eine Autotür könnte er wie eine Zeitungsseite herausreissen.

Ich wollte Scott treffen, weil ich von seinem einsamen, ketzerischen Kampf gegen Monsanto, gegen die von Grossunternehmen verordneten Monokulturen gehört hatte. «Auch uns haben sie genetisch verändert, wir haben unsere Unabhängigkeit verloren und sind keine Gemeinschaft mehr. Viele mussten ihr Land an die multinationalen Konzerne verkaufen», sagte er. Scott baut auf 5‘500 Hektaren Land Mais und Soja an. Ganz allein. Einige Hektaren zwackt er dem Mais ab und pflanzt stattdessen Bio-Hopfen für Privatbrauereien. Wehmütig erzählte er mir, dass vor nur einer Generation auf einem 20 Hektaren grossen Acker noch zehn Leute gearbeitet hätten.

Einen Tag lang habe ich ihn beim Säen begleitet, die Luft war klar wie Kristall. Er führte mich zu einem Hang, an dem er als Wache einen schneeweissen Büffelschädel postiert hatte. «In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben wir Weissen vier Millionen Büffel abgeschlachtet», sagte er. «Nur für die Zunge und das Leder oder aus Spass.» Die Kadaver verwesten in der Prärie. Dann ging bei den Farmern das Gerücht um, Büffelknochen seien exzellenter Dünger. Das zog die bone-­pickers an. Diese Knochenpflücker sammelten die Skelette ein, zermahlten sie und verkauften das Knochenmehl an Bauern in Ohio, Indiana und Michigan. Den Ureinwohnern in den Reservaten untersagte man den Handel. «Manchmal denke ich», sagt Scott, «dass wir hier am Missouri auch in einem Reservat leben. Nur sind die Cowboys jetzt die Rothäute.»
Aus dem Italienischen von Christine Ammann.

Die Kurzreportage „Missouri“ von Marzio G. Mian stammt aus der Serie „Flussgeschichten“ des Magazins REPORTAGEN.

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