Fast wie in der Schweiz – das Rugova Tal in Kosovo
Fast wie in der Schweiz – das Rugova Tal in Kosovo

Expedition in ein unbekanntes Land

von Bernhard Odehnal

Ein paar Meter noch bergauf, dann gibt der Wald den Blick auf ein beeindruckendes Panorama frei. Auf den Gipfeln liegt noch Schnee, darunter grasen Kühe auf saftigen Alpwiesen. «Es ist wirklich wie bei uns», staunt Katharina. Als Primarlehrerin in Luzern betreute sie in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Schülerinnen und Schüler aus Kosovo, die ihre Heimat mit den Schweizer Alpen verglichen. Die heute pensionierte Lehrerin konnte das nie so recht glauben. Jetzt steht sie zum ersten Mal selbst in der Gebirgslandschaft des Dreiländerecks Kosovo–Albanien–Montenegro und muss zugeben, dass die Schüler Recht hatten. Mit einer Ausnahme: Eine Moschee auf 1100 Meter über Meer wird man in der Schweiz kaum finden.

Der Besuch des Bergdorfs Drelaj, hoch über der wildromantischen Schlucht des Rugova-Tals, ist Teil einer 15-tägigen Tour, die Katharina gemeinsam mit einer kleinen Schweizer Reisegruppe von Belgrad aus durch Serbien und Mazedonien bis nach Kosovo führt. Von einer «Premiere» spricht Heini Conrad, der mit seiner Frau Elisabeth Kaestli Conrad die Reise leitet: Zum ersten Mal bieten der Berner Reiseveranstalter Background Tours und die unabhängige Organisation für Entwicklungszusammenarbeit Helvetas gemeinsam eine Studienreise an. Dabei werden neben klassischen Touristenzielen auch moderne Betriebe und Start-up-Unternehmen besichtigt. Er möchte Beispiele zeigen, die «Hoffnung machen»: «Begegnungen mit Menschen, die Neues wagen, Unternehmergeist demonstrieren », sagt Conrad.

Die Ankunft in Kosovo ist für Heini Conrad und Elisabeth Kaestli eigentlich eine Heimkehr. Kaestli reiste erstmals als Journalistin in den 90er-Jahren in die Region. Sie schrieb Bücher über die Menschen in Kosovo, Serbien und Bosnien (Limmat-Verlag). Heini Conrad leitete sechs Jahre lang Projekte von Helvetas in Pristina. Bessere, kompetentere Reiseführer kann man sich nicht vorstellen: Wenn die beiden durch Kosovos Hauptstadt führen, können sie in jeder Strasse, zu jedem Haus eine Anekdote erzählen. Wenn sie durch das Land fahren, treffen sie in fast jedem Dorf alte Bekannte und Freunde, deren Biografien die unruhige und blutige Geschichte des jüngsten Staates Europas widerspiegeln.

»Aber das ist nur eine Momentaufnahme, tatsächlich werden auf dieser Reise
mehr Vorurteile entkräftet.«

Vorurteile werden entkräftet
Entsprechend herzlich ist der Empfang im Gasthaus Shqiponja (Adler), hoch über dem Rugova-Tal. Osman Shala und seine Familie haben für die Schweizer Gruppe ein Festmahl vorbereitet: Kajmak, frische Milch, Gemüse aus dem Garten und Fli, ein Pfannkuchen-ähnliches traditionelles Gericht, das über dem Holzkohlefeuer gebacken wird.

Das viel zu schnell wachsende Pristina (ein «explodiertes Dorf» nennt es Heini Conrad) wurde am Tag zuvor zu Fuss erwandert. Jetzt geht es in die Kleinstadt Peja (serbisch: Pec) am Ausgang des Rugova-Tals. Bevor Slobodan Milosevic die Autonomie von Kosovo aufhob, lebten Serben und Albaner hier weitgehend konfliktfrei nebeneinander. Im Krieg 1999 wurde dann fast die gesamte albanische Bevölkerung aus der Stadt vertrieben und der historische Basar von serbischen Paramilitärs in Schutt und Asche gelegt. Nach dem Krieg folgte die Rache, und die serbische Bevölkerung musste flüchten.

Der Basar wurde wiederaufgebaut und hat sich auf den Verkauf üppig bestickter Brautkleider spezialisiert. Von der serbischen Kultur ist in Pec nur das Patriarchenkloster geblieben, das die Unesco zum Weltkulturerbe erklärte.  Lange mussten Soldaten der internationalen Schutztruppe Kfor die Wiege der serbisch-orthodoxen Kirche bewachen. Heute ist die Lage entspannt. Ein kosovarischer Polizist kontrolliert nur kurz die Ausweise und winkt. Am Klostertor drückt eine schwarz verhüllte Ordensschwester den Besuchern Audioguides in die Hände. Dann dürfen sie allein durch die Anlage wandern und bekommen an 20 Stationen die uralten Fresken, Ikonen, Ikonostasen auf Deutsch, Englisch oder Französisch erklärt.

Vor dem Klostertor ist Schluss mit Romantik. Das albanische Peja ist schnell, laut, chaotisch. Das erste Hotel der Stadt trug früher den serbischen Namen Metohija und war ziemlich heruntergekommen. Dann machte es die italienische Kfor-Truppe zum Hauptquartier. Heute ist es wieder ein Hotel, heisst auf Albanisch Dukagjini, hat vier Sterne, einen Spa-Bereich und ein Nobelrestaurant. Auf dem Parkplatz stellen junge Exil-Albaner ihren Porsche oder Bentley mit Zürcher Kennzeichen zur Schau.

An diesem Abend sieht es so aus, als würde Kosovo alle Schweizer Vorurteile bestätigen. Aber das ist nur eine Momentaufnahme, tatsächlich werden auf dieser Reise mehr Vorurteile entkräftet. Zum Beispiel, dass das Land gefährlich sei. Ist es überhaupt nicht, ausser im Strassenverkehr. Oder dass die Menschen misstrauisch und verschlossen seien. Lorenz, ein pensionierter Ingenieur, und seine Frau Iris sind überrascht, wie «offen und gastfreundlich wir überall empfangen werden». Es reichen ein paar Worte Schwiizertüütsch, schon wird man von Einheimischen angesprochen:

«Aus der Schweiz kommt ihr? Ich war auch dort, drei (oder vier, oder fünf) Jahre: die schönste Zeit meines Lebens.»

Und dann sind die Kosovaren überrascht: «Ihr kommt als Touristen? Findet ihr unser Land schön und interessant?»

Schweizerisches Boutiquehotel
Aber ja, das findet die Schweizer Reisegruppe wirklich: Schön sind die «Kulla» genannten uralten Wehrtürme in entlegenen Dörfern, interessant ist das neue Callcenter Baruti Service & Contact Center in der Hauptstadt Pristina. 

Mitgegründet und geleitet wird es von einer 28-jährigen Kosovarin, die die Kindheit und Jugend in Greifensee im Kanton Zürich verbrachte und dort noch immer Steuern zahlt. «Die Gemeinde war so gut zu mir, ich möchte ihr etwas zurückgeben», sagt Drenusha Shala. Helvetas unterstützte die Qualitätszertifizierung für Baruti. Heute betreut Shalas Firma mit über 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Kunden in ganz Europa.

Sehr schweizerisch ist auch das Boutiquehotel in der serbischen Enklave Gracanica bei Pristina. Vor fünf Jahren hat es der Zürcher Andreas Wormser mit einem in der Schweiz aufgewachsenen kosovarischen Architekten errichtet. Von hier aus lassen sich bequem Tagestouren arrangieren: in die alte Hauptstadt Prizren, in die geteilte Stadt Mitrovica, deren mit EU-Geld restaurierten Brücke für Serben und Albaner noch immer mehr Barriere als Verbindung ist. Und auch zum Gazimestan, dem düsteren Turm, errichtet im Gedenken an die Schlacht am Amselfeld. 1389 besiegten hier die Osmanen ein serbisches Heer, 1989 verkündete Milosevic von hier aus die Entrechtung der albanischen Bevölkerung. Die Inschrift am Turm mahnt die Besucher, dass jeder Serbe mit Herz und Hirn für Kosovo kämpfen müsse.

Gekämpft wird heute nicht mehr. «Alles ruhig hier», berichten die Mitglieder des Schweizer Kfor-Kontingents, denen die Schweizer Touristen zufällig im serbischen Teil Mitrovicas begegnen. Dennoch sind die Reisenden erstaunt, wie wenig Kontakt Serben und Albaner haben, wie sehr das Land fast 20 Jahre nach Kriegsende noch geteilt ist. Das Hotel Gracanica bekommt diese Trennung bitter zu spüren. Albaner kommen kaum in die serbische Enklave, Serben ist das Hotel zu fremd und zu teuer. Die Gäste sind hauptsächlich Mitarbeiter internationaler Organisationen.

Auch die Schweizer Reisegruppe geniesst in den letzten Tagen der Tour den helvetischen Standard vor den Toren Pristinas: einfache, aber geräumige und saubere Zimmer, gutes Essen mit viel Gemüse statt immer nur Fleisch, Pool vor der Tür und vom Balkon aus der Blick über das weite Land. Das Gracanica ist ein guter Ausgangspunkt, die weitere Umgebung zu Fuss oder mit dem Velo zu erkunden. Die gelben Wegweiser zeigen nach Schweizer Standard Ortsangabe und Wegzeiten. Aber für Touren fehlen nach 15 Tagen Balkanreise die Zeit und mehr noch die Energie. Sie wolle nach der Rückkehr in die Schweiz erst einmal einige Tage gar nichts tun, sagt die 90-jährige Edith: «So viele Eindrücke, so viele Informationen. Das muss ich erst einmal verdauen.»
 

Bernhard Odehnal hat die Background Tours Reise in den Westbalkan im Frühling 2018 begleitet. Die Reportage stammt aus dem Tages-Anzeiger vom 22. Juni 2018.