Atacamawüste

Erinnerungen an Chile - Schönheit und Schmerz

von Frank Stern

Es gibt wenige Länder auf der Welt, in denen Erhabenheit und Elend  auf so schicksalhafte Weise miteinander verwoben sind wie in Chile.

Eine Reise in ein Land, dessen Wunden nicht heilen wollen. 

Chile stand auf meiner Wunschliste nicht unbedingt ganz oben. Es rangierte nicht mal im Mittelfeld, wenn ich ehrlich sein soll. Doch dann suchte ein Freund einen Reisebegleiter, mir fiel auf die Schnelle keine überzeugende Ausrede ein, und so stehen wir beide jetzt auf dem Flughafen von Calama und warten auf unser Gepäck. Calama liegt weit im Norden Chiles inmitten der Atacama-Wüste, der trockensten Region der Erde. Die NASA testet dort ihre Mars-Rover. 

Wir verstauen unsere Sachen im Mietwagen und machen uns auf den Weg nach San Pedro de Atacama, einer kleinen Stadt 100 Kilometer weiter südöstlich, die sich in den letzten Jahren zu einer Art Wallfahrtsort für Wüstenfreunde aus aller Welt entwickelt hat. Von dort aus wollen wir zu einigen staubigen Exkursionen starten, die von Reiseführern als beeindruckend, atemberaubend und zuweilen als spirituelle Offenbarung angepriesen werden. 

Das weisse Kreuz. Charles Darwin, der 1835 auf einem Maultier durch die Atacama trottete,  hatte da eine entschieden andere Meinung. «Man fühlt sich wie ein Gefangener auf einem düsteren Gefängnishof, der sich nach etwas Grünem sehnt», nörgelte er nach seinen Abstechern in die nahezu vegetationsfreie Region und beklagte, dass die Sonne ihre Strahlen über diesem trostlosen Land vergeude, statt sie für fruchtbare Felder und Gärten aufzusparen. Ich kann Darwin ein wenig nachfühlen.

Meine erste Erinnerung an Chile liegt schon eine Ewigkeit zurück, ein halbes Jahrhundert fast. An die Szenen aber, die ich als Junge im Fernsehen gesehen hatte, erinnere ich mich noch genau: Schüsse in Santiagos Strassen, Menschen, die davonrennen, das unbestimmte Gefühl, dass etwas Grosses auf dem Spiel steht. Die Aufnahmen zeigten einen Armeejeep, vielleicht 60 Meter entfernt, von dem ein Soldat mit seinem Gewehr direkt auf den Zuschauer zielte. Dann das Mündungsfeuer, der Knall, die Kamera fängt an zu wackeln, und plötzlich bricht der Film ab. Manche Bilder begleiten einen ein Leben lang.

Wir sind vielleicht zehn, zwölf Kilometer gefahren, als wir in der bretterflachen, mit Windrädern gespickten Ebene plötzlich ein überdimensionales, weisses Kreuz aufragen sehen, hinter dem schlanke Betonstelen einen Kreis bilden. Jede davon trägt den Namen eines Mannes, samt Geburts- und Todesjahr. Die meisten waren blutjung, als sie starben. Wir stehen vor einem jener Erinnerungsorte, an denen Chiles Schmerz an die Oberfläche dringt. Es gibt sie im ganzen Land. 1990 waren Frauen aus Calama, die seit Jahren nach ihren verschwundenen Angehörigen gesucht hatten, hier auf ein Massengrab mit den Überresten von vermutlich 26 Toten gestossen. Ganz sicher ist man sich nicht – die Opfer wurden mit Dynamit in die Luft gesprengt.

Der beste Pisco. Schweigend fahren wir weiter. Die Spröde der Landschaft entlang der Ruta del

Desierto passt zu unserer Stimmung. In der Ferne zeichnen sich die hoch aufragenden Gipfel der Anden ab, sie wirken wie eine unbezwingbare Barriere.

Der erste Europäer, der sie unter hohen Verlusten überwand – Hunderte leibeigene Indigene und viele schwarze Sklaven aus dem Tross erfroren in der Bergeskälte –, war 1536 der Spanier Diego de Almagro, der zuvor an der Seite von Francisco Pizarro das Inkareich in Peru erobert hatte. Als Nächster drang Pedro de Valdivia in das Gebiet vor, gründete 1540 an der Stelle einer indianischen Siedlung San Pedro de Atacama und ein Jahr darauf, 1200 Kilometer weiter südlich, Santiago, Chiles Hauptstadt. Am Ende landete er in den Händen aufständischer Mapuche-Indianer und sein Kopf auf einer Lanze.

Seit Generationen streiten Chilenen und Peruaner darüber, wer zuerst den Einfall hatte, Traubenschnaps mit Limettensaft, Zuckersirup und Eiweiss zu verquirlen. Die Frage ist bis heute ungeklärt – am besten, man hält sich raus.

Die Lodge Quelana, unsere Unterkunft für die nächsten Tage, liegt etwas ausserhalb von San Pedro. Es ist eine kleine Oase aus acht Bungalows, versteckt hinter Büschen und wildem Gestrüpp. Gabriel, unser Quartiermeister, hat das Lodge-Projekt vor zwei Jahren gestartet. Er gab seinen gut bezahlten Job als Wartungsingenieur in einer Kupfermine auf und stürzte sich mit seiner Frau ins Wagnis. «Es gibt noch viel zu tun», erzählt der 35-Jährige, «aber ich habe mehr Zeit für meine Kinder.» Gabriel kennt die Geschichte von den 26 Männern aus Calama. Er ist dort aufgewachsen.

Nachdem unser Gepäck ausgeladen ist, fahren wir als Erstes in die Stadt, wo sich ein Souvenirladen an den nächsten reiht, Veranstalter überteuerte Ausflüge in die Umgebung anbieten und gelegentlich bunte Prozessionen mit Pauken und Trompeten zur Iglesia de San Pedro ziehen, einer der ältesten Kirchen Chiles.

Nach einem kurzen Rundgang durch die ungepflasterten Gassen landen wir schliesslich im «La Casona», wo jeden Abend ein Klavierspieler vor sich hinswingt und vermutlich der beste Pisco Sour in ganz Südamerika serviert wird. Seit Generationen streiten Chilenen und Peruaner darüber, wer zuerst den Einfall hatte, Traubenschnaps mit Limettensaft, Zuckersirup und Eiweiss zu verquirlen. Die Frage ist bis heute ungeklärt – am besten, man hält sich raus.

Später am Abend sitzen wir auf der Terrasse unseres Bungalows und beobachten, den Kopf im Nacken, wie zahllose ferne Welten über uns ihre Signale aussenden. Die Sterne scheinen zum Greifen nah. Kalt und klar.

Ausserirdisch. Der nächste Morgen ist kühl, über uns spannt sich ein blauer Himmel, an dem sich nicht eine Wolke zeigt. Man hat fast das Gefühl, man könne seiner Haut beim Verwelken zusehen, so trocken ist die Luft. Nur mal so zur Illustration: 1914 stiess der deutsche Archäologe Max Uhle in der Atacama auf Mumien, die älter waren als alle ägyptischen. Viele davon, ohne dass sie auf irgendeine Art konserviert worden wären. Sie waren einfach vertrocknet. Mit Haut und Haaren und allem Drum und Dran. Der berühmte Acha-Mann, den man in der Nähe von Arica oben an der peruanischen Grenze fand, lag 9‘000 Jahre in der Erde, bevor man ihn in alter Frische wieder ans Licht holte.

Die Atacama ist wirklich sehr trocken. Für Sternenforschende sind das ideale Bedingungen, um ihre Teleskope dunst- und nebelfrei ins All zu richten. 50 Kilometer östlich von San Pedro zum Beispiel betreibt die Europäische Südsternwarte (Eso) auf über 5‘000 Metern Höhe mit dem Atacama Large Millimeter Array eines der grössten Astroprojekte der Welt. Mit ihm

wollen die Wissenschaftler*innen bis zu jenem Punkt vordringen, an dem Raum und Zeit einst in einem Wirbel aus Sternenstaub ihren Anfang nahmen.

Ganz so hoch hinaus wollen wir an diesem Morgen nicht. Auf unserem Programm steht lediglich ein kleiner, ausserirdischer Spaziergang, den man gefahrlos unweit von San Pedro absolvieren kann, in einer Landschaft wie nicht von dieser Welt. Wir erreichen sie über eine fünf Kilometer lange Buckelpiste, die von der Ruta 23 direkt ins Valle de la Luna führt, ins Tal des Mondes.

Nachdem wir einige tapfere Radfahrer, die verzweifelt gegen den strammen Wind an-

kämpfen, in einer Staubwolke hinter uns gelassen haben, landen wir gewissermassen auf der erdabgewandten Seite des Erdtrabanten. «Nicht betreten», warnt ein Schild vor einer mächti-gen Sanddüne, über die wir kurze Zeit später ein paar ausgehungerte Hunde auf uns zukom-men sehen. Erfreulicherweise lassen sie uns unbehelligt, sacken unter einem Felsvorsprung, der ein wenig Schatten spendet, zusammen und rühren sich nicht mehr.

Die Düne wird von seltsam geschwungenen, gebogenen und gestauchten Gesteinsformationen eingefasst, die aussehen, als hätte ein Riese in früher Zeit die Erde umgestülpt. Ich weiss nicht, ob es an der dünnen Luft liegt – wir befinden uns immerhin auf 2‘400 Metern Höhe – oder an der inzwischen zur Hochform aufgelaufenen Sonne, jedenfalls kann ich der Landschaft plötzlich etwas abgewinnen. Wie uralte Erinnerungen türmen sich vor uns Steinschicht auf Steinschicht, und für einen kurzen Moment bekomme ich eine Vorstellung von Zeit. Von Zeitlosigkeit.


Dieser Text ist ein Ausschnitt aus der Reportage „Erinnerungen an Chile – Schönheit und Schmerz“, die erstmals im Herbst 2021 im Globetrotter-Magazin erschien.

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