Das Aralseebecken bei Mujnjak ist inzwischen völlig ausgetrocknet © Peter Gysling

Auszug aus dem Buch «Andere Welten – Russland, Ukraine, Kaukasus, Zentralasien»

von Peter Gysling

Die meisten Reisenden, die den Aralsee aufsuchen, begegnen diesem an dessen einstiger Südspitze bei Mujnjak (Moynoq) in Usbekistan. Dort ist das Aralseebecken inzwischen völlig ausgetrocknet. Ein Teil des kleinen nördlichen Aralsees aber konnte in den letzten Jahren durch den Bau eines speziellen Staudamms gerettet werden. Peter Gysling hat das Gebiet in den letzten dreissig Jahren mehrmals besucht. Vom Norden und vom Süden her. In seinem Buch «Andere Welten – Russland, Ukraine, Kaukasus, Zentralasien» bringt er uns unter anderem die besondere Leidensgeschichte des Binnenmeeres näher. In einem der Buchkapitel schildert er, wie ihm und einer kleinen internationalen Journalisten- und Wissenschaftergruppe anfangs der 90er Jahre überraschend der Zugang ins damalige sowjetische Sperrgebiet bei Aralsk ermöglicht wurde. Dank einer beharrlichen Initiative des kasachischen Dichters und Politikers Muchtar Schachanow. 

Frühmorgens wurden wir überraschend zu einem Couchettewagen geleitet. Unsere Tour startete in der kasachischen Stadt Almaty und sollte mehrere Tage und Nächte dauern. Nicht nur wir, auch Muchtar Schachanow war glücklich, dass die Behörden die ungewohnte Reise bewilligt hatten. Der Dichter und Politiker sah jetzt nämlich die einzigartige Chance gekommen, der Rettung des Binnenmeeres einen wichtigen Impuls zu verschaffen. 

Es wurde eine lange Reise. Schachanow liess unseren Eisenbahnzug in mehreren Städten immer wieder anhalten, um dort mit Auftritten vor der lokalen Bevölkerung bei den dortigen Würdenträgern auf seine Mission und auf unseren ideellen Beistand aufmerksam zu machen.

Ein erstes Mal hielten wir in der Stadt Taras, wo Schachanow ein spontanes Treffen mit dem Personal des Regionalspitals anberaumte. In einem grossen Konferenzsaal erklärte er, dass es ihm gelungen sei, internationale Hilfswerkvertreter, Wissenschaftler und Journalisten aus dem Ausland zu versammeln. Bald werde sich wohl endlich auch ein internationales Netz-werk den Problemen des Aralsees annehmen. Ergreifend schilderte er gegenüber den An-wesenden die Probleme, mit denen die Bewohner am Aralsee seit Jahrzehnten zu kämpfen hatten. Diese seien von den sowjetischen Behörden und Befehlsgebern ihrem schlimmen Schicksal überlassen worden, ein grösserer Teil der Karakalpaken, ein Volk, das rund um den Aralsee siedelt, sei gar in seiner Existenz bedroht. Er erzählte von den Krankheiten, die sich immer mehr ausbreiteten, vom schier ausweglosen Kampf der Aralseebevölkerung, die mehr nationale Solidarität verdiene und auch auf internationalen Beistand angewiesen sei. Dann zitierte er mit bewegter Stimme aus seinem Gedichtband – Hilferufe zugunsten des Lebens am Aralsee.

HILFERUF MIT AUSGIEBIGEN TRINKGELAGEN
Wir Korrespondenten, die Wissenschaftler und Hilfswerkvertreter mussten dabei jeweils ne-ben ihm, oben auf den Podien Platz nehmen. Er stellte jeden von uns vor und bat bei der Menge im Saal um Applaus. Anschliessend wurden wir von örtlichen Würdenträgern zu ausgiebigen Gelagen in eines der örtlichen Restaurants eingeladen.
Dort gab es literweise Wodka. In mannigfachen Trinksprüchen wurde auf die Völkerfreundschaft angestossen, auf ein glücklicheres Schicksal für die Aralseebewohner, auf deren Frauen, deren Kinder.
 

 

Als wir in der Stadt Turkistan Halt machten, wurden wir gleich zwei Mal Opfer von Trinkgelagen. Ein zweites Mal, nachdem wir uns bereits Schlafen gelegt hatten.

Wir waren bereits ziemlich nervös. Wir wollten endlich am Aralsee ankommen und befanden uns noch immer über 800 Kilometer von unserem ersehnten Etappenziel entfernt.

"Er stelle das Streckensignal auf grün, wenn die Wodkaflasche leer sei."


Eigentlich war der Zug abfahrbereit, doch er bewegte sich nicht. Bei einem Gang zur Toilette stellte ich fest, dass die Waggontür, die stets vom Zugspersonal geschlossen wurde, immer noch offenstand. Ich stieg aus, ging dem Perron entlang zu einem kleinen Gebäude, das sich etwa auf der Höhe unserer Lokomotive befand. Die kleinen Fenster des Häuschens waren hell erleuchtet. Ich klopfte an die Tür und sah, wie der Dichter und Politiker Schachanow, unser Zugführer, der Lokomotivführer und ein örtlicher Bahnverantwortlicher rund um eine Flasche Wodka sassen. Etwas verunsichert erkundigte ich mich, wann denn unser Zug losfahren werde. Der Bahnchef war nicht verlegen. Er stelle das Signal dann auf grün, wenn die Wodkaflasche leer getrunken sei. Wenn wir uns am Leeren beteiligten, werde dieser Prozess verkürzt, meinte er lachend.
Zwar hätte ich gewarnt sein sollen! Aber ich holte ein paar meiner Kolleginnen und Kollegen aus dem Bahnwaggon und geleitete sie zum Bahnwärterhaus. Als wir dort eintrafen, standen mehrere Flaschen bereit …
Viele Stunden später näherten wir uns endlich der Hafenstadt Aralsk. Jetzt also… Aber nein, ein Polizeijeep mit Blaulicht empfing uns und man geleitete uns in ein Restaurant, das sich direkt neben einer Pier der Aralsker Hafenanlage befand. Wir hätten gewiss Hunger. Man kredenzte uns ein ausgiebiges Frühstück – mit Wodka notabene.
Von den Fensterplätzen des Gasthauses aus bot sich uns ein guter Überblick über den Hafen. Vor uns standen zwei kleinere Fischerboote im Sand. Vor dem Bug des einen Schiffes, wo einst das Meerwasser schwappte, spielten Kinder. An der gegenüberliegenden Wand im Restaurant, hoch über uns, hing ein grosses Ölgemälde mit einer kitschigen Darstellung einer Aralsee-Idylle: das Meer mit Wasservögeln, mit Badenden, Fischern, Kindern. Alles mitten in einer grünen Landschaft. Ja, so etwa muss es hier mal ausgesehen haben!

Dass wir auch jetzt wieder gezwungen waren, vor vollen Wodkaflaschen und Wodkagläsern zu sitzen, empfanden wir als sonderbar. Aber es gab kein Entrinnen. Auch diesmal mussten wir uns der Regie von Schachanow und jener der Organisatoren beugen. Doch dann – wir hatten kaum mehr daran geglaubt – ging alles Schlag auf Schlag!
 

 

VERROSTETE SCHIFFWRACKS, DIE IM SAND STECKEN
Nahe beim Hafen, im Sand, bestiegen wir eine Antonow-Doppeldecker-Maschine. Die Fenster liessen sich glücklicherweise öffnen und wir flogen relativ tief. Mit meiner Kamera konnte ich die Wüstenlandschaft unter uns einfangen, Kamele, die unter uns vorbeizogen. Schliesslich überflogen wir bei der Fischersiedlung Sigubaj zwei verrostete Schiffwracks, die dort im Sand steckten. Hier setzte der Pilot zur Landung an. Kinder aus der Siedlung rannten auf uns zu und geleiteten uns zu den Lehmhäusern. 

Es war ergreifend, mitanzusehen, unter welch erbärmlichen Verhältnissen die Leute hier wohnten. Die meisten Männer des Dorfes, so erklärte man uns, seien jetzt tagsüber an einem Süsswasserteich, weit entfernt von der Siedlung Sigubaj, bei ihrer Arbeit. Ihr Fang aber sei in der Regel bescheiden und vermöge lediglich die Selbstversorgung ihrer Familien knapp zu sichern. Sauberes Trinkwasser, Lebensmittel und wichtige Produkte des täglichen Bedarfs würden gelegentlich mit Lastwagen über die Steppe hergebracht.

Einst hatte man sich hier vor allem mit dem Boot von Dorf zu Dorf bewegt, jetzt ersetzten veraltete Motorräder, Kleinlastwagen oder gar Kamele die Schiffe. Im Dorf selbst gab es einen Kindergarten und eine bescheidene Dorfschule. Eine alleinstehende, ältere und zahnlose Frau öffnete mir die Tür zu ihrem Vorgarten. Das Kamel, das hier angebunden war, sichere ihr mit seiner Kamelmilch das Überleben. Ihr Häuschen und das Kamel seien, klagte sie mit leiser Stimme, neben der Nachbarschaftshilfe das Einzige, was ihr geblieben sei.

«ANDERE WELTEN – Russland, Ukraine, Kaukasus, Zentralasien»
Werd-Verlag 2017/18, Fr. 29.– / 320 Seiten mit über 100 Fotos und Karten
ISBN 978-3-85932-915-7 - www.werdverlag.ch



Als Radio- und Fernsehkorrespondent in Moskau hat Peter Gysling seinerzeit den Zerfall der Sowjetunion, später aber auch die jüngsten Jahre Russlands unter Präsident Putin miterlebt. Zahlreiche Reportagereisen haben ihn in alle Länder und in die entlegensten Regionen der einstigen UdSSR geführt. So war er bei der russischen Krim-Annexion direkt vor Ort. Er beschreibt in diesem Buch aber auch, wie er einst bei einer Sonnwendfeier in Jakutien in Trance geraten war oder wie sehr uns die Sorgen der Menschenrechtler berühren sollten.