Ismar Poric mit Kinderchor
@Maja Hürlimann

Allen Widrigkeiten zum Trotz

von Maja Hürlimann

Ein Interview mit Ismar Poric, Gründer „Haus der guten Töne“ in Bosnien & Herzegowina 

Nach über 25 Jahren seit dem Ende des Balkankrieges sind die Wunden zwischen den verschiedenen Völkergruppen in Bosnien und Herzegowina (B&H) noch nicht verheilt. Unterschiedliche „historische Wahrheiten“ behindern den Prozess der Versöhnung und Vergangenheitsbewältigung. Machthungrige Politiker*innen in einem komplexen System mit zum Teil korrupten Strukturen, die stagnierende Wirtschaft mit hoher Arbeitslosigkeit und nun noch Corona heizen die Nationalismen an. Doch es gibt Menschen, die allen Widrigkeiten zum Trotz hier Grosses leisten. Einer von ihnen ist Ismar Poric, den wir auch auf unserer Reise nach B&H im kommenden Jahr treffen werden.

Ismar Poric lernte ich 1998 in B&H kennen, wo ich für die Caritas Schweiz drei Jahre im Wiederaufbau arbeitete. Inzwischen leitet er als leidenschaftlicher Musiker und Friedensförderer seit 10 Jahren das „Haus der guten Töne“ in Srebrenica. Kinder aus serbischen und bosniakischen Familien erhalten hier Musikunterricht oder singen im Chor, mit dem sie auch im Ausland auftreten. Die „guten Töne“ beschränken sich nicht mehr nur auf Musik. Hier wird debattiert, es werden Projekte gemacht, die den guten Ton fördern, zwischen Menschen, die noch immer hinter ethnischen Mauern gefangen sind. Hier kommen auch bosnische und Gruppen aus dem Ausland zusammen, um an Friedensprojekten zu arbeiten und sie in die Welt zu tragen.

Ismar, hast du Erinnerungen an die Zeit in Deutschland und deine Rückkehr 1998?
Meine Erinnerungen an die Zeit als Flüchtlingskind in Deutschland und als Rückkehrer nach B&H nach dem Krieg sind schmerzvoll und ich verdränge sie meistens. In Deutschland fühlte ich mich alleine gelassen und schämte mich in der Schule für meinen Akzent, obwohl meine Eltern alles taten, damit ich mich wohl fühlte. Damals begann ich auch zu musizieren. Zurück in B&H war ich der Feigling, der es sich in Deutschland wohl ergehen liess, während meine Kamerad*innen Kriegsgräuel und Armut erlebten. Das alles war für mich als Kind sehr verwirrend. Es prägt mich aber bis heute in meiner Motivation, vernachlässigten Kindern in Srebrenica Kraft, Zugehörigkeit und einen Sinn im Leben zu vermitteln. 

Inzwischen bist du Musiker geworden. Ich kann mich erinnern, dass dein Vater darüber besorgt war, als du dich für diesen Weg entschieden hast.
Mein Vater hat mich immer in meinen Entscheidungen unterstützt, obwohl er sich über meine Zukunft als Musiker auch gesorgt hat. Berufsmusiker*innen haben in B&H wenig Anerkennung. Aber für mich lief es gut, mit über 1‘000 Konzerten in ganz Europa und über 150 Studioaufnahmen. Die grösste Freude bereitet mir aber meine jetzige Arbeit im „Haus der guten Töne“, wo ich meine pädagogischen, künstlerischen und sozialen Interessen in den Dienst der jungen Menschen stellen kann – eine Win-Win-Situation. 

Wie kam es zum „Haus der guten Töne“? 
Am Anfang stand eine Idee, die mein Vater 2009 als Vertreter der österreichischen Organisation „Bauern helfen Bauern“ in Srebrenica entwickelte: Es begann mit gelegentlichem Musikunterricht für rund 20 Kinder mit zwei lokalen Musiklehrerinnen und einigen geschenkten Instrumenten. Als ich 2010 herkam, sah ich grosses Potential, begeisterte einige Kolleg*innen und wir entwickelten eine Strategie und ein professionelles Unterrichtsprogramm, unter anderem mit der Unterstützung von Gerald Wirth, dem künstlerischen Leiter der Wiener Sängerknaben. 1‘300 Jugendliche der Umgebung besuchten seither die Schule, machten an über 150 Konzerten in B&H und Europa mit und wir erhielten verschieden Auszeichnungen.
Musik verstehen wir als einen Träger von Werten wie Empathie, Dialog, Kooperation… und so hat sich unsere Arbeit erweitert. Wir begleiten junge Menschen im Prozess ihrer sozialen und emotionalen Entwicklung und motivieren sie, frei und kritisch zu denken. Es wurden Angebote entwickelt, wo kritisches Denken, soziale Werte oder der Umgang mit sozialen Medien auf kreative Weise vermittelt werden. In einem Umfeld, in dem die Bevölkerung durch nationalistische Rhetorik beeinflusst und gespalten wird, scheint uns dies zentral. In Srebrenica bilden wir damit eine Gegenkraft zum nationalistischen Narrativ, und unsere Aktivitäten in der Stadt haben für die Bevölkerung Modellcharakter. Heute sind wir die führende Organisation in dieser Region in der Friedensarbeit mit jungen Menschen und sind landesweit vernetzt.

Wie haben sich die Kinder der ersten Stunde der Schule weiterentwickelt? Was konnte das Haus der guten Töne ihnen auf den Weg mitgeben?
Eben haben wir mit 47 ehemaligen Schüler*innen eine kleine Evaluation gemacht. Was sie hier gelernt haben, leben sie in ihrem Alltag weiter, vor allem das kritische Denken, die Offenheit gegenüber anderen.
Es ist leider die bittere Wahrheit, dass mehr und mehr junge Menschen das Land verlassen, und ich kann es ihnen nicht übelnehmen. Doch wir brauchen die Jungen hier, im Kampf für eine bessere Zukunft! Wir haben nur unsere Heimat und sie ist es wert, sich einzusetzen. Das Land wird von einer korrupten Gruppe von Individuen regiert, die sich während der Coronakrise mit gefälschten Beatmungsgeräten bereichern… Die wirtschaftliche und politische Lage des Landes war noch nie so schlecht wie jetzt. 

Du und deine Familie habt euch dafür entschieden, zu bleiben. Welchen Einfluss können positive Initiativen, wie das Haus der guten Töne auf die Entwicklung der Gesellschaft in B&H haben und welches sind deine Visionen für dein Heimatland?
Nach 10 Jahren stellen wir fest, dass hier noch viel zu tun ist. Wir wollen den Kindern und Jugendlichen die Werkzeuge vermitteln, damit sie sich aktiv und positiv in die Gesellschaft einbringen und ihren Eltern, die den Genozid überlebt haben, ein von sozialen, kulturellen und moralischen Werten geprägtes Umfeld wieder aufbauen können. Inzwischen gibt es eine Vertrauensbasis hier in Srebrenica, auf der wir an diesem Ziel weiterarbeiten: als Schritt zu einem nachhaltigen Frieden in Bosnien und Herzegowina.
 

Maja Hürlimann ist in der Entwicklungszusammenarbeit tätig und leitete nach Abschluss des Balkankrieges während drei Jahren das Büro für Wiederaufbau der Caritas Schweiz in Nord-Bosnien.

Zusammen mit Monique Frey, die in Travnik Projekte im Bereich der Landwirtschaft, der wirtschaftlichen Entwicklung und der Friedensförderung umsetzte, begleitet sie unsere Studienreise nach Bosnien und Herzegowina vom 6. bis 19. Juni 2022.  

Möchten Sie das „Haus der guten Töne“ unterstützen? Spenden sind möglich über: https://houseofgoodtones.org/en/about-us/#support 


Maja Hürlimann

Expertin für Entwicklungszusammenarbeit

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