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Urs Allenspach arbeitete als Arzt für SolidarMed in Simbabwe

Eine Panne als Chance

"Eigentlich kommen Pannen immer ungelegen und ihre Auswirkungen gehen von lästiger Störung unseres Tagesablaufs bis hin zur vollen Katastrophe. Ich musste und durfte vor zwei Jahren erfahren, dass eine Panne auch neue Perspektiven öffnen kann."

Urs Allenspach arbeitete als Arzt für SolidarMed in Simbabwe und führt heute Reisen dorthin. Er erzählt von seinen Erlebnissen unterwegs.

 

Wir fuhren im November 2018 zu dritt in einem Pickup auf der steinigen Strasse zwischen Binga und Karoi durch die abgelegenste Region Simbabwes. Ungefähr 150 km nach der letzten grösseren Siedlung erlitten wir innert kurzer Distanz mehrere zerstörte Reifen und sassen fest. In diesem Strassenabschnitt passieren etwa zwanzig Fahrzeuge pro Tag, es gibt kein flächendeckendes Netz für mobile Telefone, es ist um 40⁰C warm, die Umgebung zeigt die gewohnten, niedrigen Trockenwälder und steinreiche Savanne. Die Gegend ist ganz dünn besiedelt und in einiger Entfernung sahen wir ein paar mit Strohdächern gedeckte Rundhäuser aus Lehm. Es war klar: wir waren offline.

Wir drei waren rasch genervt und durch dieses Missgeschick verärgert. Es bestand zwar keine Gefahr, wir hatten genügend Nahrungsmittel und Wasser, aber trotzdem begann das Nörgeln. Warum hatten wir nicht noch mehr Räder dabei? Pläne wurden ausgedacht und verworfen. Doch nach kurzer Zeit kam die Erkenntnis, dass wir vor allem warten mussten und nichts aktiv Konstruktives unternehmen konnten. Unaufgefordert ergab sich Zeit zu einer Pause nach einer intensiven, durchstrukturierten Reise und es eröffnete sich die Möglichkeit zur Begegnung mit den Anwohnern, an denen wir eigentlich mit der auf Pisten üblichen Staubfahne vorbeifahren wollten.

Zuerst kamen Kinder, dann Jugendliche und schliesslich Erwachsene. Wenige Kinder gehen hier zur Schule und es gibt keine formale Arbeit. Wir befanden uns auf dem Gebiet der Tonga, einer der traditionellsten Volksgruppen der Region. Vor Jahrhunderten kamen sie ins Tal des Sambesi und lebten in Einklang mit der Natur von Fischfang, Jagd und Subsistenzlandwirtschaft in dieser kargen, trockenen Region. Der Name Tonga bedeutet «diejenigen, die sich selbst verwalten», was auch andeutet, dass sie keine Kriege führten, sich keiner politischen Bewegung anschlossen, bis heute ihr eigenes Rechtssystem behielten und von für uns mysteriösen Mächten beschützt werden, die nichts mit modernen Strukturen eines Staats zu tun haben. Diese eher romantische Beschreibung der Tonga verschweigt, dass sie in heutiger Perspektive vernachlässigt und im politischen Machtspiel vergessen und benachteiligt sind. Sie haben eine tiefere Lebenserwartung und verlangsamtere Alphabetisierung als die Menschen in den umgebenden Regionen. Ihr Misstrauen gegenüber staatlicher Verwaltung wurde um 1950 noch massiv verstärkt, als sie das Ufer des zur Stromgewinnung gestauten Sambesi verlassen mussten und mit Zwang in die Steinlandschaft der umgebenden Hügel umgesiedelt wurden. Sie liessen dabei auch die grossen Bäume am Flussufer zurück, in denen nach ihrem Verständnis die verstorbenen Ahnen wohnen und wurden durch den neuen See von ihren rituellen Stätten auf der anderen Flussseite abgeschnitten, da der Stausee hier etwa 20 km breit ist. Bis zum Bau der Staumauer wurden die Tonga vom Gott Nyami Nyami beschützt, der in der Sambesi Schlucht wohnt, die Gestalt einer Art Flussschlange mit Fischkopf hat und dafür sorgte, dass es genug Wasser auf den Feldern und genügend Fische im Fluss gab. Durch den Stausee wurde Nyami Nyami so verstört, dass er sich von den Menschen zurückzog. Die Sehnsucht, dass er in Zukunft wieder hervorkommt und die Tonga zu ihren Flussauen zurückführt, bleibt bestehen.

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Aber darüber sprachen wir nicht mit den Menschen, die unsere Panne beobachteten. Wir sprachen gar nicht, denn wir kannten nur je eine Handvoll Worte der anderen Seite. Eigentlich brauchte es auch keine Gespräche. Sie wussten, dass wir irgendwann weiterziehen und sie allenfalls rasch wieder vergessen würden. Wir wussten, dass sie hier in ihrer eigenen Welt zurückbleiben würden und unsere Panne im Tagesgespräch war, aber auch nicht mehr. Dann aber kam Bewegung in die Szene. Ein Bub rollte einen alten Lastwagenreifen zu unserem Auto und machte das Angebot, so unsere Panne zu beheben. Es brauchte einige Zeit, bis wir alle auf dem gleichen Stand und uns einig waren, dass dieser Reifen nicht passte. Der Reifen wurde wieder zurückgerollt.

Ein kleiner Lastwagen hielt an. Auf dessen Ladefläche sass ein gutes Dutzend bärtige Männer mit kahl geschorenen Köpfen und gehüllt in weisse Tücher. In der einen Hand hielt jeder einen Hirtenstab: Propheten und Mitglieder der fundamentalen, traditionsbewussten religiösen Gruppe der Vapostori. Sie waren auf dem Weg zu einem Treffen und im Laufe der nächsten zwei Tage passierten uns nach einem kurzen Halt noch drei weitere ähnliche Transporte.

Die Vapostori erklären alle Entwicklungen im Leben der einzelnen Mitglieder mit deren Glaubensfestigkeit und Treue zur Gruppe. Geleitet werden diese von einem Propheten und die Gottesdienste finden im Freien unter grossen Bäumen statt. Aus meiner eingeengten Sicht als Arzt ist es inakzeptabel, dass erkrankte Vapostori oder deren schwangere Frauen die Spitäler und Kliniken nicht benutzen dürfen, da der Grund einer Krankheit immer durch Verfehlungen des Erkrankten begründet werden und entsprechend mit Ablegen von Busse zu behandeln sind. Unnötige Verstümmelung und Tod sind nicht seltene Folgen. Diesen Missstand hatte ich immer wieder in Vorträgen in Europa und auf Simbabwereisen kritisiert.

Aber darüber sprachen wir nicht mit den Vapostori auf dem Lastwagen. Sie waren recht offen für diese Begegnung, spontan hilfsbereit und boten ihr Ersatzrad an, welches aber leider nicht passte. Endlich nahmen sie einen von uns zur nächsten Ortschaft mit, welche eben in etwa 150 km Entfernung lag.

Jetzt waren wir zu zweit mit der wechselnden Zuschauergruppe. Die Bereitschaft, uns zu unterstützen und die nicht wertende teils neugierige, teils analysierende Präsenz der mausarmen Leute beeindruckte uns mächtig. Wir wollten auch etwas beitragen. Aber Sprache und allgemeine in Europa übliche Gestik brachten uns hier nicht weiter. Es gibt aber die universell verstandene Fussballsprache. Wir packten also einen Lederball aus und sofort waren alle dabei. Bis zur einbrechenden Dunkelheit spielten wechselnde Teams miteinander. Die Tonga brauchten keinen Schiedsrichter. Es ging nicht um Erfolg, nicht um Tore oder Wettbewerb.

Als sich die Sonne zu setzen begann kamen zwei junge Frauen mit Pfeifen und boten uns an, Dagga zu rauchen. Das strikte Cannabis-Verbot in Simbabwe gilt für die Tonga nicht. Da sie immer Dagga rauchten, tun sie es auch weiterhin. Eine alte Frau begleitete die Pfeifenträgerinnen. In ihrer Nasenscheidewand steckte ein Stück Knochen und nur beim seltenen Lachen war erkennbar, dass ihre zwei oberen Schneidezähne fehlten. Entsprechend dem Tonga Schönheitsideal wurden früher die Schneidezähne der Mädchen entfernt. 

Trotz unserer langen Wartezeit konnten wir uns nicht vorstellen, hier Cannabis zu rauchen. Ein Angebot ablehnen, ist aber nicht immer einfach. Die Erklärung, wir seien für diesen Stoff zu schwach, leuchtete dennoch ein, brachte uns allerdings auch mitleidige Blicke.

Nach etwa 48h hatten wir Ersatzräder vor Ort und konnten weiterfahren. Die Panne war behoben und unser Aufenthalt im Land der Tonga beendet. In der Erinnerung erscheint dieser mehrfache Reifenschaden nicht als Panne, sondern als Erweiterung meiner Erfahrung: wir fahren auf unseren Reisen an so vielen möglichen Begegnungen und Reichtümern vorbei und können gar nicht einschätzen, was Anhalten bedeutet hätte.

Möchten Sie das "andere Simbabwe" zusammen mit Urs Allenspach erleben? Hier geht's zur aktuellen Studienreise vom Herbst 2021.

Text: Urs Allenspach